Neujahr

Honig vom Schlosspark

Ariel blickt hinüber auf den Charlottenburger Schlosspark. Dort, jenseits der Spree, wo einst der preußische Adel flanierte, boten noch bis vor wenigen Tagen die Lindenbäume seinen Bienenvölkern die letzte Ausbeute des Jahres. Allmählich bereiten sich die kleinen Tiere nun auf die Winterruhe vor. Die meisten von ihnen werden die wärmenden Frühlingsstrahlen nicht mehr erleben. Zur Erhaltung der Art aber steht noch eine Aufgabe an: jenen Winterbienen nämlich, die in wenigen Tagen schlüpfen werden, den Start in ein kurzes Leben zu erleichtern.

In übereinander geschichteten hölzernen Kisten wird sich das vollziehen, auf dem Flachdach eines mehrstöckigen Neubaus, von wo aus der Hobbyimker Ariel Klein-Nahari auf den Schlosspark der Hohenzollern schaut.

sozialordnung »Im Winter ruhen die Bienen in der Wintertraube und halten im Stock eine konstante Temperatur von 37 Grad«, berichtet Ariel Klein-Nahari. Die Tiere vom kalten Rand rücken regelmäßig ins Zentrum, und die aufgewärmten Bienen begeben sich von dort nach außen. Das sei ein ständig rotierender Organismus, erklärt Klein-Nahari. »Diese Ordnung der gegenseitigen Verantwortung finde ich faszinierend«, sagt der 33-Jährige mit leuchtenden Augen.

Die Empathie eines diplomierten Sozialarbeiters wird spürbar, und sie beschränkt sich keineswegs auf Insekten. Nach dem Studium in Frankfurt kümmerte sich Klein-Nahari in Berlin im Auftrag der Organisation »Subway« um Jugendliche aus Osteuropa, die auf den Strich gingen – in einer speziellen Einrichtung standen ihnen Tagesruhebetten zur Verfügung, es gab eine Kleiderkammer, und Ariel Klein-Nahari hat mit ihnen gekocht. Dabei gab es neben einer Drogenberatung auch Gespräche, in denen Ausstiegsszenarien aus der Prostitution aufgezeigt wurden.

Seit vier Jahren arbeitet er nun bei der Berliner Schwulenberatung, und ebenso lange ist er in der Freizeit mit seinen Bienen beschäftigt. Die sind inzwischen auf vier Völker angewachsen, denn wenn ein Volk erkennt, dass eine neue Königinnenzelle existiert, ist es bereit, sich zu teilen. Ein Teil schwärmt dann mit seiner Königin aus und sucht nach einem neuen Zuhause.

Vier Bienenvölker haben ein solches Domizil in Ariels hölzernen Kisten gefunden, in denen die Brutwaben hängen. Die Honigwaben hat der Imker bereits vor Tagen entfernt – rechtzeitig zum neuen Jahr – und in einer speziell dafür gebauten Schleuder mit einer Kurbel den Honig aus den diagonal angelegten Zellen herausgeschleudert. Insgesamt 60 bis 80 Kilogramm erntet er auf diese Weise bei zwei Schleuderungen pro Jahr.

KINDHEITSTräume Als Ariel ein kleiner Junge war, verbrachte er die Freizeit mit seiner Familie in einem Schrebergarten in Maintal bei Frankfurt. Am anderen Ende der Gartenkolonie hielt sich ein älterer Pächter diverse Bienenvölker. Bei gelegentlichen Besuchen dort entwickelte sich bei dem Knaben die Leidenschaft für die Imkerei. Es sollte jedoch noch mehr als ein Vierteljahrhundert dauern, ehe er sich den Traum von den eigenen Bienen erfüllen konnte.

Eine andere kindliche Prägung hingegen wurde schneller wirksam: Lange wurde in der Familie nicht darüber gesprochen, dass ein Großvater von Marco, wie Ariel damals noch hieß, Jude war. Erst als eine Tante einen Stammbaum vorlegte – da war Marco schon ein Teenager –, erhielt er Gewissheit. Allerdings, so erfuhr er, war die Familie bereits 1933 aus der Frankfurter Israelitischen Gemeinde ausgetreten, und zumindest Marcos Großvater konnte so der Verfolgung entgehen.

Die Neugier des jungen Mannes war jedenfalls geweckt, und er machte sich auf zur Frankfurter Westend-Synagoge. »Bei der Chabad-Gruppe war immer eine Menge los«, erinnert er sich, und obgleich er halachisch nicht jüdisch war, fand er dort so etwas wie »eine soziale Heimat«, wie er rückblickend sagt. In diesem Umfeld feierte er Schabbat und auch die Hohen Feiertage.

Bei einer Reise nach Israel lernte er schließlich seinen heutigen Ehepartner kennen, weshalb es ihn schon bald wieder ins jüdische Land zog. Diesmal blieb Marco elf Monate in Florentin, dem aufstrebenden Szeneviertel von Tel Aviv. Während sein Partner arbeitete, lernte Marco an der Universität Hebräisch. Eine Synagoge habe er in Israel nie vermisst, sagt er, denn dort habe das jüdische Leben ja im Alltag stattgefunden.

youtube Das änderte sich nach der Rückkehr nach Deutschland. Als er Rabbiner Tuvia Ben-Chorin kennenlernte, war er vom ersten Moment an von ihm fasziniert. Es entstand das Bedürfnis, bei ihm einen Giur zu machen. »Ich wollte ihn unbedingt als Lehrer haben«, sagt Ariel. Der Rabbiner war seinerseits zunächst zurückhaltend, ihn als Schüler aufzunehmen.

Wie alle anderen, die zum Judentum übertreten wollen, wurde auch Marco auf eine harte Probe gestellt. Ehe aus ihm Ariel werden konnte, wurde er vom Rabbiner zunächst zu einer Psychologin geschickt. Solche Besuche kannte er bisher nur in Begleitung seiner Klienten, nun musste er sich selbst deren Fragen stellen. Bei Ariels Partner, der inzwischen nach Berlin umgezogen war, stieß sein Übertrittswunsch gleichermaßen auf Akzeptanz wie Unverständnis. »Bis heute bin ich in dieser Ehe der Jude und er der Israeli«, sagt Ariel lächelnd.

Seine Kenntnisse über die Imkerei hat sich Ariel durch einige Bücher, vor allem aber durch YouTube-Videos angeeignet. Dabei ist ihm eine verblüffende Dualität zwischen dem jüdischen Kalender und dem der Bienen aufgefallen. Kurz vor Rosch Haschana, wenn Juden weltweit den Geburtstag der Welt feiern, schlüpfen die Winterbienen. Im Bienenstock entsteht neues Leben, das keinen geringen Anteil an der Bewahrung der Schöpfung hat.

»Ohne Bienen gäbe es zum Rosch-Haschana-Mahl nicht nur keinen Honig, sondern auch keine Äpfel«, bringt Ariel Klein-Nahari den Kreislauf der Natur auf den Punkt. Und weil er seine Bienen eines Großteils des Honigs beraubt hat, sie im Winter aber dennoch Nahrung brauchen, muss er nachfüttern. Hobbyimker Ariel öffnet behutsam die Kästen und legt große Mengen an weißem zuckrigen Futterteig auf die verbliebenen Waben. Sofort machen sich die ersten Bienen darüber her. Bis Rosch Haschana wird alles in die Futterwaben eingebracht sein und als Winternahrung zur Verfügung stehen.

erkundungsflüge Zwischen Jom Kippur und Sukkot, wenn der Herbst dann endgültig Einzug hält, rücken die Bienen immer dichter zusammen und bilden jene Wintertraube, in deren Zentrum sich die Königin befindet. Fällt die Temperatur im Bienenstock unter zwölf Grad Celsius, zittern sie den Stock für mindestens einen Tag lang warm. Dazu klinken sie ihre Flügel aus, damit sie nicht abheben, und erzeugen mit ihrer Flugmuskulatur ein Muskelzittern.

So geht das nun einige Monate, ehe es zu Purim im Bienenstock langsam wieder lebendig wird. Sobald es draußen wärmer ist als zwölf Grad, schwärmen die ersten Arbeitsbienen zu Erkundungsflügen aus, und auch für den Imker fängt die Arbeit wieder an. Und kurz vor Tischa beAw erreicht die Entwicklung des Bienenvolkes ihre Blütezeit. Die Suche nach Blüten, die der Imker »Trachtquellen« nennt, läuft nun auf Hochtouren.

»In der Stadt sind es vor allem die vielfältigen Baumblüten, von denen die Bienen zurück in den Stock kommen«, erläutert Hobbyimker Ariel. »Rund um mein Bienendomizil sind Platanen zu finden. Ein Stück weiter stehen auf der einen Seite Ahornbäume und auf der anderen Seite Linden. Drüben im Park kommen Weiden dazu, die auch sehr früh blühen, und die riesigen Blumenrabatten.« Bald darauf wird dann der erste Honig des weltlichen, des jüdischen wie auch des Bienenjahres geschleudert.

Kaschrut Man kann schon die Uhr danach stellen – spätestens zu Rosch Haschana stellt irgendjemand in fast jeder jüdischen Familie die Frage, ob Honig eigentlich koscher sei. Schließlich stamme die süße Speise ja von einem nichtkoscheren Tier.

Der Blick in die Tora gibt für eine Antwort nur bedingt etwas her. Zwar wird von Jonatan berichtet, »dessen Augen hell wurden«, nachdem er vom Honig gekostet hatte. Aber damit hatte er – wenngleich ohne es zu wissen – gegen den Fastenbefehl seines Vaters, König Saul, verstoßen.

Auch an anderen Stellen wird über bedenkenlosen Honiggenuss gesprochen. So erfährt man in Schoftim – dem »Buch der Richter« – von Simson und den Bienen, die auf dem Kadaver des Löwen Honig herstellen. Und im 19. Psalm wird darauf verwiesen, dass die Rechte des Ewigen »köstlicher denn Gold und viel feines Gold« und »süßer denn Honig« seien. Das spricht nicht dafür, dass Honig in biblischer Zeit als unkoscher galt. Ist es also rabbinisch in Ordnung, wenn Juden an Erew Rosch Haschana Apfelschnitze in Honig tunken und bis Sukkot das Brot damit bestreichen, über das sie den Hamotzi-Segen sprechen?

winterbienen Oft und lange haben die Rabbiner des Talmuds das Problem diskutiert, wie Rabbi Berel Wein schon vor einigen Jahren in einem Beitrag für diese Zeitung zu berichten wusste. Am Ende sei entschieden worden, dass die Säckchen der Biene, die den Honig enthalten, aus halachischer Sicht nur ein Speicherplatz für den Honig seien. Weder die Säckchen noch der produzierte Honig seien demnach Bestandteil des Bienenkörpers.

Ariel Klein-Nahari kann also bedenkenlos dem Schlüpfen seiner Winterbienen entgegensehen, seinen geschleuderten Honig unter die Leute bringen und auf ein für Imker wie Bienen süßes Jahr hoffen.

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