Diskussion

Herausforderung und Segen

In zwei Sätzen umriss Felix Klein die Leitfrage des gesamten Nachmittags: »Diese Zuwanderung von Jüdinnen und Juden hat unserer Gesellschaft gutgetan.« Gleichzeitig fragte der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus aber in seinem Grußwort zu der Veranstaltung »30 Jahre jüdische Zuwanderung: Erfolge und Herausforderungen« auch: »Hat sie auch den Menschen, die gekommen sind, gutgetan?« Ort der Diskussion war am Montag die Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen beim Bund in Berlin, und sie wurde als Livestream übertragen.

Anlass für die dreieinhalbstündige Zusammenkunft war das 30. Jubiläum der Bund-Länder-Beschlüsse, die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion die Einwanderung in die wiedervereinigte Bundesrepublik ermöglichten. »Es ist Ihr immenses Verdienst, dass Sie sich als damaliger Bundesinnenminister für die jüdische Einwanderung starkgemacht haben«, sagte Klein, an Wolfgang Schäuble gewandt.

VorGespräche Der Bundestagspräsident würdigte in seinem Vortrag die Zuwanderung der »Kontingentflüchtlinge«: »Ihr Zuzug war und bleibt ein Segen.« Schäuble erinnerte sich an Gespräche, die er 1991 als Bundesinnenminister mit dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, führte: »Ich war überzeugt, dass wir den Wunsch von Juden, die in Deutschland leben wollten, dankbar annehmen sollten.«

»Die zweite und dritte Generation ist erfolgreich angekommen.«

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble

Er sprach aber auch Probleme wie die Nichtanerkennung von beruflichen Qualifikationen an. Gerade viele der älteren Zuwanderer hätten nur schwer den Weg in den Arbeitsmarkt gefunden. »Umso erfreulicher ist, dass die zweite und dritte Generation so erfolgreich angekommen ist. Sie ist ein selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft«, betonte der Bundestagspräsident.

Vertreter dieser öffentlich sichtbaren, jüngeren Generation waren in beiden von Julia Smilga, Journalistin des Bayerischen Rundfunks, moderierten Diskussionsrunden, die auf Schäubles Vortrag folgten, präsent.

Aufnahmegesellschaft Zunächst standen eher die Perspektiven der deutschen Aufnahmegesellschaft und der jüdischen Gemeinden im Mittelpunkt. Almuth Berger, ehemalige Staatssekretärin und Ausländerbeauftragte der DDR-Regierung Modrow, merkte an, es gehe um 31 Jahre Zuwanderung russischer Juden. Die Weichenstellung sei schon in der DDR erfolgt. »Dass das ein Glück für Deutschland ist, darüber sind wir uns alle einig«, sagte Berger über die jüdische Zuwanderung.

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, blickte auf die Situation der Gemeinden vor dem Zuzug aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten zurück: »Viele jüdische Gemeinden waren überaltert. Man konnte zusehen, wie die Mitgliederzahl abnahm.« Man habe absehen können, dass kleine oder mittlere jüdische Gemeinden keine reelle Überlebenschance gehabt hätten, betonte Schuster.

Die Integration der Zuwanderer beschrieb er als eine »große Herausforderung«. Gleichwohl habe man in den allermeisten Gemeinden verstanden, dass die Zuwanderung eine große Chance ist. Ihr großes Plus sei die Stärkung, Entwicklung und Neugründung jüdischer Gemeinden in Deutschland, betonte Schuster.

Konsens Hans-Eckhard Sommer, Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, sagte, per Video zugeschaltet: »Es war ein großer, parteiübergreifender Konsens, dass wir die jüdische Einwanderung nach Deutschland ermöglichen. Das ist ein ganz großer Erfolg.« Am Anfang der Zuwanderung habe man jedoch die Integrations­aspekte nicht in den Vordergrund gestellt.

»Ohne diese Zuwanderung gäbe es kein diverses jüdisches Leben in diesem Land«, unterstrich Lena Gorelik. Sowohl die Bundesrepublik als auch die jüdischen Gemeinden seien aber sehr wenig vorbereitet gewesen, kritisierte sie. Über ihre eigene Integration sagte die mit elf Jahren aus St. Petersburg eingewanderte Journalistin und Schriftstellerin: »Ich musste mich erst einmal in der deutschen Gesellschaft bewegen lernen, bis ich mich dem Jüdischen nähern konnte.« Heute sei sie Mitglied in einer liberalen Gemeinde in München. Gorelik betonte: »Ich glaube, dass ich Teil des jüdischen Lebens durch meine kulturelle, politisch-aktivistische Arbeit bin.«

Die von Lena Gorelik skizzierte Perspektive der jüngeren Zuwanderer stand im Fokus der zweiten Diskussionsrunde. Die Schriftstellerin Lana Lux umschrieb ihre anfänglichen Bemühungen, sich vollständig anzupassen, metaphorisch als »Löschen des Dokuments und ein komplettes Neuschreiben«. Die Soziologin Darja Klingenberg plädierte gegen das »Erfolgsgeschichtennarrativ«. Es diene dazu, zu sagen, dass das deutsche Integrationsversprechen funktioniere. Das stimme aber nicht. Die jüdischen Zuwanderer hätten sich nicht wegen, sondern trotz der Integrationsmaßnahmen gut positionieren können, sagte Klingenberg.

»Wir haben das jüdische Leben ein bisschen aufgemischt.«

Rechtsanwalt und Publizist Sergey Lagodinsky

»Wir haben das jüdische Leben ein bisschen aufgemischt«, sagte der Grünen-Europaabgeordnete, Rechtsanwalt und Publizist Sergey Lagodinsky. Er erinnerte aber auch an die oft schwierige Situation der älteren Zuwanderer: »Für die ältere Generation gerade war es eine Geschichte des Scheiterns.« Lagodinsky mahnte schnelles Handeln in der Frage der Altersarmut und der Renten für jüdische Zuwanderer an: »Das Ziel ist, dass wir hier eine dauerhafte, würdevolle Lösung erreichen.«

Der Pianist Igor Levit erinnerte sich an seine ersten Jahre in Deutschland: »Den ersten Großteil meines jungen Lebens habe ich meine Stärke daraus gewonnen, mich so viel wie möglich diesem Land anzunähern.« Er habe sich als Kind in die deutsche Sprache verliebt. Seine Liebe zur Musik demonstrierte Levit zum Abschluss der Veranstaltung, indem er Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy und Franz Schubert spielte.

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