Oberschöneweide

Haus der Ideen

Ruhig dazusitzen und Däumchen zu drehen – das ist nichts für Avitall Gerstetter. Wenn die Kantorin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin nicht gerade singt, dann ist sie kreativ, denkt sich neue Projekte aus und feilt an deren Konzepten. Natürlich geht es dabei auch oft um Musik.

So wie bei ihrem jüngsten Projekt »On the road with Avitall«. Dafür wird sie durch Europa reisen, andere Menschen an ihren Wohnorten treffen, sich mit ihnen unterhalten und Musik machen. Ausgestrahlt werden sollen diese Begegnungen dann im Fernsehen.

Sommer An diesem Sommermorgen aber steht sie in Schöneweide vor den Reinbeckhallen, trägt zur Jeans eine blaue Bluse, auf die ihr eigenes Logo eingestickt ist. Das Design ist angelehnt an das Fenster der Synagoge Oranienburger Straße, wo sie überwiegend amtiert. Sie hat es gemeinsam mit ihrem Vater gestaltet.

In den ehemaligen Fabrikhallen lädt die Kantorin seit Kurzem mehrmals im Jahr zu einem Salondinner ein. Nun plant sie dort auch einen jüdischen Kultursalon. Auslöser für dieses jüngste Projekt waren antisemitische Schmierereien in der Edisonstraße – ein paar Meter von ihrer Wohnung entfernt. Gerstetter wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in Schöneweide. »Ich möchte etwas dagegenhalten«, sagt Avitall Gerstetter. »Alle meine Projekte sind gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gerichtet. Judentum ist nicht nur eine Religion, sondern auch eine Kultur- und Wertegemeinschaft«, sagt die 47-Jährige.

REINBECKHALLEN Zwei Ateliers an den Reinbeckhallen will sie zusammenlegen. »Hier möchte ich mit anderen Leuten Musik machen, zu Konzerten und Ausstellungen mit jüdischen Künstlern, aber eben auch mit nichtjüdischen Künstlern einladen«, erläutert Gerstetter ihre Pläne. Politiker, Musiker, Künstler, Gemeindemitglieder, Interessierte – alle sind willkommen.

Bei den Ausstellungen sollen auch Bilder verkauft werden. Beispielsweise habe der Künstler Stephan Balkenhol drei Holzskulpturen gespendet, berichtet die Kantorin. Der Fotograf Andreas Mühe, der derzeit im Hamburger Bahnhof eine große Ausstellung hat, ist ebenfalls mit von der Partie. »Ins Kulturzentrum wollen wir Schüler und auch Lehrer einladen, um religionspädagogisch zu arbeiten«, sagt die Kantorin, deren Mutter Musik- sowie Bar- und Batmizwa-Lehrerin in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin war. Auch mit Schriftstellern ist Gerstetter im Gespräch.

Als Koch ist oft der israelische Küchenchef Gal Ben Moshe aus Werneuchen mit seinem Team im Einsatz.

Wer das mehrgängige Dinner genießen möchte, muss sich nur anmelden. Es kostet nichts, aber um Spenden für andere Projekte wird gebeten. »Ich möchte Menschen unterschiedlicher Kulturen an einen Tisch bringen«, sagt Avitall Gerstetter. Sobald sie den Termin für ein Dinner bekannt gibt, werde sie komplett überrannt, es gebe mehr Nachfragen als Plätze.

Das nächste Dinner samt Konzert findet am 21. September in Stuttgart statt. Für Geschirr, Besteck und Tischdecken hat sie extra ein Lager angemietet, in dem alles untergebracht ist, wenn es gerade nicht gebraucht wird. Als Koch ist oft der israelische Küchenchef Gal Ben Moshe aus Werneuchen mit seinem Team im Einsatz. Wenn er nicht gerade unterwegs ist, trifft man ihn in seinem neuen Restaurant in Berlin-Charlottenburg.

LEUCHTER »Beim Dinner gibt es dann viele Gelegenheiten für Begegnungen und Austausch. Es geht mir um Völkerverständigung und darum, dass Angehörige unterschiedlicher Kulturen an einem Tisch sitzen«, betont Gerstetter. Von der ursprünglichen Idee, das Dinner am Schabbat auszurichten, sei sie aber wieder abgerückt, denn sie wollte es thematisch lieber offenhalten. »Ich wünsche mir einen gesellschaftlichen Wandel, dass wir miteinander leben und aktiv werden. Das Salondinner soll ohne Politik und ohne Religion stattfinden.«

Die Spenden fließen in zwei Projekte, die ihr am Herzen liegen: Zum einen soll ein großer Leuchter in Form eines stilisierten Davidsterns am Ku’damm aufgebaut werden, zum anderen möchte sie ihren »Comic gegen das Vergessen« etablieren.

Mithilfe des Comics will sie eine Brücke zur Vergangenheit schlagen – mit kurzen, jugendgerechten Sätzen, ähnlich einer SMS.

Mit dem Leuchter beschäftigt sie sich bereits seit ein paar Jahren. »Ich möchte mit ihm ein Zeichen setzen«, sagt sie. Jeden Schabbat soll er leuchten. Eine Chanukkia werde ja nur temporär aufgestellt und wieder abgebaut, doch dieser Leuchter solle immer da sein.

Die Genehmigung zur Aufstellung ist beim zuständigen Amt bereits im Ordner abgeheftet, das Modell hat der Künstler Arik Levy entworfen. Mit Bodenflutern soll der fest installierte, knapp vier Meter hohe Leuchter angestrahlt werden. Er sehe sehr ästhetisch aus, erinnere an Kerzen, sagt Gerstetter.

GROSSTANTE In dem anderen Projekt widmet sie sich ihrer Familiengeschichte mit einem »Comic gegen das Vergessen«. Ihre Großtante Rozsika, um deren Andenken es geht, war sieben Jahre alt, als sie in Auschwitz ermordet wurde. Diese Graphic Novel stellt die Frage, was aus den Opfern geworden wäre, hätte es die Schoa nicht gegeben. Wie hätte Rozsika gelebt? Derzeit wird die dritte Episode gezeichnet.

»Jugendliche haben heute kaum mehr Gelegenheit, mit Überlebenden zu sprechen«, sagt Gerstetter. Mithilfe des Comics hofft sie, eine Brücke zur Vergangenheit schlagen zu können – mit kurzen, jugendgerechten Sätzen, ähnlich einer SMS oder WhatsApp-Nachricht.

Wäre das Mädchen damals gerettet worden, hätte Avitall Gerstetter heute eine Großtante Rozsika. Und weil sie den Mördern nicht das letzte Wort über Rozsikas Leben überlassen will, hat sie sich ausgedacht, wie es hätte sein können. Dazu hat sie sich den Illustrator und Designer Christian Breil mit ins Team geholt.

»Ich will dazu beitragen, dass authentisches jüdisches Leben in der Mitte der Gesellschaft stattfindet und wahrgenommen wird«, sagt sie. Nicht nur an Gedenktagen.

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