Ukraine

Hamantaschen und Kriegssorgen

Wie blickt die russischsprachige und jüdische Gemeinschaft Berlins auf Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine? Wie kontrovers diskutieren die Menschen über die sich täglich zuspitzende Lage? Um ihnen zuzuhören und über diese Fragen ins Gespräch zu kommen, ist ein Lebensmittelladen, in dem unterschiedlichste Vertreter der Community zusammenkommen, womöglich der ideale Ort.

An einem sonnigen, kühlen Freitagmorgen in Berlin zeigt ein großer Bildschirm im S-Bahnhof Charlottenburg die Meldung, die russische Armee habe zivile Ziele in der ukrainischen Stadt Dnipro bombardiert. Verlässt man das Bahnhofsgebäude, fällt nach wenigen Schritten der kyrillische Schriftzug »Rossija« ins Auge, der für »Russland« steht und die Farben der russischen Trikolore trägt.

gesprächsanfrage In dem rund um die Uhr geöffneten Markt für Lebensmittel, Obst, Gemüse und Fleisch sind an diesem Morgen kaum Kunden anzutreffen. Russische Popmusik hallt durch die Ladenräume. Eine Gesprächsanfrage der Jüdischen Allgemeinen weist die russischsprachige Verkäuferin resolut ab.

Gesprächsbereit zeigen sich unterdessen die Kunden und Inhaber des nur wenige Gehminuten entfernten koscheren Lebensmittelgeschäfts »Kosher4all«. Dort steht der Freitagvormittag im Zeichen des Einkaufs für den Schabbat. Frische Challot warten auf die Kunden, während Hamantaschen mit Erdbeerfüllung auf das bevorstehende Purimfest verweisen.

Ebenfalls im Zeichen des Feiertags stehen mehrere Plakate, die etwa auf Deutsch, Russisch und Ukrainisch ein von Chabad, Hillel und weiteren Organisationen angebotenes Purim-Straßenfest vor dem Laden in der Waitzstraße ankündigen.

Im Koscherladen steht der Freitagvormittag im Zeichen des Einkaufs für Schabbat.

»Bald ist Purim, wir haben es fast vergessen vor diesem ganzen Hintergrund«, sagt Andrej Mints, Manager und Mitinhaber des »Kosher4all«, während er für einen Kunden einen Cappuccino zubereitet. Der Hintergrund, das ist natürlich der Krieg in der Ukraine.

Er habe mit sehr vielen Menschen gesprochen, berichtet Mints. Ukrainische Geflüchtete, die in Charlottenburg untergekommen seien, kauften in seinem Laden ein. Menschen, die aus verschiedenen jüdischen Gemeinden der Ukraine kommen, hätten ihm Fotos und Videos aus dem Kriegsgebiet gezeigt.

streitigkeiten »Es ist schrecklich. Ich kann nicht glauben, dass heute so etwas geschehen kann, nicht weit von uns entfernt: Raketen fliegen, Zivilisten leiden ohne jeden Grund«, sagt er. »Ich verstehe nicht, wie man in dieser Situation auf der Seite Russlands sein kann.« Unter den Kunden beobachtet Mints seit Kriegsbeginn eine Anspannung, allerdings sei es bisher nicht zu Streitigkeiten über die Situation in der Ukraine gekommen. Auch ein etwaiger Boykott russischer Waren sei, so Mints, nicht zu beobachten.

In seinem Laden wird an diesem Vormittag Russisch und Deutsch, Hebräisch und Englisch gesprochen. Ebenso divers und international ist das koschere Warenangebot. Ein russischsprachiger Kunde mit einem gut gefüllten Einkaufskorb wirkt besorgt. »Es ist schrecklich. Es ist Krieg, viele sterben«, sagt er und berichtet, etliche Freunde und Verwandte seien derzeit in der Ukraine, etwa in Odessa und bei Kiew.

Er stehe unter Anspannung, könne seit zwei Wochen kaum schlafen. »Wir helfen«, betont der aus Kiew stammende, seit über 20 Jahren in Deutschland lebende Mann. Gemeinsam mit seiner Frau habe er gespendet und humanitäre Hilfe gesammelt.

handyfoto »Wenn irgendwo in der Welt Krieg ist, ist es überall spürbar«, sagt ein weiterer russischsprachiger Kunde. Auch er hilft: »Wir haben gestern 20 Menschen aus der Ukraine in unsere Synagoge an der Passauer Straße eingeladen und mit Essen und Trinken versorgt.« Er zeigt ein Handyfoto der erschöpft und dennoch auch erleichtert wirkenden Geflüchteten. Freunde in der Ukraine habe er nicht, sagt der Mann. »Wobei – sie!«, ruft er und deutet auf Olga, die Mitinhaberin des Ladens, die an diesem Freitagvormittag an der Kasse steht.

Im Geschäft wird an diesem Morgen Russisch und Deutsch, Hebräisch und Englisch gesprochen.

Sie komme aus dem westukrainischen Riwne, berichtet Olga auf Russisch. Seit 2015 lebe sie in Deutschland, habe aber viele Freunde und Verwandte in der Ukraine. »Ich schlafe nicht gut«, erzählt sie. Jeden Morgen schaue sie zuallererst auf ihr Mobiltelefon, um Nachrichten von Freunden und Verwandten abzurufen, um sicherzugehen, dass sie wohlauf sind. Danach besuche sie Nachrichtenseiten.

»Statt des Gebets beginne ich den Tag mit Nachrichten«, sagt Olga, die trotz der Situation freundlich und herzlich wirkt. Im Laden gebe es keinen Streit über den Krieg: »Die Mehrheit unterstützt die Ukraine, viele helfen.«

unterstützung In Berlin höre man aber Berichte, dass etwa Menschen mit Ukraine-Fahnen angefeindet würden. Eine »emotional starke Unterstützung« spürte Olga unterdessen am ersten Wochenende nach Kriegsbeginn, als zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule Zehntausende gegen den Überfall auf die Ukraine demonstrierten. Russen und Ukrainer seien ebenso dort gewesen wie Georgier und Kasachen, Belarussen und Deutsche. »Auch wir waren dort«, sagt Olga.

Nun muss sie wieder kassieren. Dann fragt eine Kundin: »Wann ist Purim?« Wenige Minuten später hat Olga wieder etwas Zeit und berichtet von Geflüchteten, die von Chabad aufgenommen wurden und auch in ihrem Laden waren. Überhaupt hätten viele Kunden ihren Bekannten, Freunden und Verwandten aus der Ukraine geholfen, zumindest vorübergehend nach Berlin zu kommen. Auch »Kosher4all« leistet Hilfe: »Wir haben viele Lebensmittel in die Ukraine gespendet sowie Medikamente eingekauft.«

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