Erinnerung

Glanz zum Gedenken

Aufpoliert: Charlottenburger Stolpersteine Foto: Mike Minehan

Kaum jemandem fällt die Gruppe am Kranzler-Eck auf. Die jungen Leute haben ihre mitgebrachten Plastiktüten, Geschirrhandtücher und Metallpolitur auf den Boden gestellt, Passanten und Touristen schlendern vorbei. »Guck mal, eine Verkaufsveranstaltung«, entscheiden zwei Freundinnen, »irgendwas mit Putzmitteln«, meinen sie noch. Dann bleiben die beiden aber doch stehen.

Mike Delberg, Manuel Ruschin und Avital Grinberg hatten unter anderem via Facebook an diesem 9. November zum »March of Remembrance« eingeladen, bei dem Stolpersteine geputzt werden sollen. Sie wollen an diesem Tag »aktiv erinnern« und die versinnbildlichten Gedenken an die Opfer des Holocaust wiedererstrahlen lassen.

Mike Delberg geht in die Hocke und macht vor, wie die Stolpersteine gesäubert werden sollen. Erst wird weiße Politur aufgetragen, dann mit einem Lappen so lange verrieben, bis der Stein wieder golden glänzt. »Wir haben uns natürlich vorher erkundigt, welches Mittel besonders geeignet ist«, erklären die drei Freunde.

Millionen Einzelheiten über die Schicksale derjenigen, an die diese sogenannten Stolpersteine erinnern sollen, erwarten die Zuhörer jedoch vergeblich. Man habe sich dagegen entschieden, denn man wolle an diesem Tag nicht Einzelne aus der Millionenzahl von Opfern herausstellen, sondern symbolisch aller gedenken, erklärt Delberg.

Und dann wird geputzt. Das Hocken ist ziemlich anstrengend, aber schnell zeigt sich Erfolg. Längst sind die drei nicht mehr allein, sie sprechen ein Gebet und stellen Kerzen neben den Steinen auf. Die beiden Freundinnen, die das Geschehen aus einigem Abstand verfolgt haben, sind begeistert. Das sei mal »eine richtig gute Idee«, sagen sie, die Stolpersteine waren mittlerweile auf dem Trottoir kaum noch wahrzunehmen, »aber nun, so frisch geputzt, fallen sie gleich ins Auge, außerdem kann man nun die Namen der Opfer lesen und so an sie denken«.

Während die Gruppe zusammenpackt und sich zur nächsten Stolperstein-Stelle aufmacht, lassen sich vor allem die Jugendlichen noch schnell vor den Steinen fotografieren. Die Zeit drängt: 14 Stationen mit insgesamt 40 Steinen möchten Delberg, Ruschin und Grinberg an diesem Nachmittag noch besuchen.

feste Einrichtung Wäre es aber nicht überhaupt eine gute Idee, künftig am 9. November überall in Berlin die Stolpersteine von Straßenschmutz und Verwitterungen zu reinigen? Mike Delberg zögert. Dazu benötigte man viel mehr Leute als die rund 40, die heute kamen, sagt er, und es gehe ja hauptsächlich um die Symbolik. Aber wenn andere die Idee aufgreifen wollten, habe sicher niemand was dagegen.

Auf dem Weg zu den nächsten Steinen bleibt ein älterer Mann plötzlich stehen. »Vor 74 Jahren war es hier nicht so ruhig und friedlich«, sagt er und deutet mit dem Zeigefinger auf Gebäude ringsum. »Die großen Warenhäuser und Geschäfte wie Wertheim, Leiser, Kempinski, alles hat gebrannt oder wurde zerschlagen.« Jean Charrabé ist mit seinem Sohn Leon zum Reinigen der Steine gekommen. Dieses tatkräftige Gedenken sei ihm sehr wichtig, betont er, dessen Familie bis auf eine in Auschwitz ermordete Tante den Holocaust überleben konnte. Denkt er nicht gerade an Tagen wie heute manchmal, dass manche der ganz alten Passanten durchaus noch Täter gewesen sein könnten?

Zeugen »Die Biologie hilft«, sagt Charrabé, früher, als Kind und noch als junger Mann habe er sich das natürlich sehr oft gefragt. Die Großmutter, die um die Ecke in der Sybelstraße gewohnt hatte, bis der Eigentümer das Haus »judenrein« haben wollte, habe außerdem die Nazis der Umgebung gekannt und ihm nach dem Krieg häufig erzählt, wer was getan hatte. »Mit acht Monaten bin ich auf dem Arm meiner Mutter nach dem Krieg bei der Einweihung der Synagoge in der Pestalozzistraße gewesen«, betont Charrabé. »Wir sind keine Geschichte, wir sind immer noch da.«

Das Engagement der Jugendlichen an diesem Tag findet er »sehr richtig und schön«. Und wird dann aber auch kurz sehr deutlich: »Wenn jemand vom Vorstand der Berliner Gemeinde gekommen wäre, das wäre ein ganz tolles Zeichen für die jungen Leute gewesen, die sich heute hier so viel Mühe geben.«

Jom Haschoa

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