Ich wechselte den Kontinent bereits kurz nach der Einschulung und zog von Buenos Aires nach Israel. Südamerika war nicht die Heimat meiner Eltern. Andere Familienmitglieder sind in den Nazi-Lagern nicht – wie es so oft heißt – »umgekommen«, sondern wurden dort umgebracht, ermordet. Mein Vater war ein Ur-Berliner, der in den 30er-Jahren seine Zahntechniker-Ausbildung nicht beenden konnte, weil er Jude war. Meine Mutter stammte aus Plauen im Vogtland. Trotz Bestnoten konnte sie ihre Reifeprüfung nicht ablegen, denn dies war einer Jüdin verboten.
Meine Sprachbegabung habe ich wohl von ihr, exakte Wissenschaften eher nicht. Meine erste »richtige« Sprache ist, neben Deutsch, Spanisch, schließlich kam ich 1957 in Buenos Aires zur Welt.
1937 – im Jahr nach den Olympischen Spielen, die in Berlin stattgefunden hatten – schafften meine Eltern es noch, Deutschland zu verlassen. Eine Flucht und Rettung, die so oder ähnlich heute auch wieder zur Biografie junger Menschen gehören kann. Nur wartete in einem südamerikanischen Staat ohne allgemeinen Wohlstand niemand darauf, sich Unterstützungsleistungen zu teilen. Meine Eltern waren unabhängig voneinander in Argentinien angekommen, aber nur meine Mutter kam auch zusammen mit ihrer Familie. Mit nichts in der Tasche mussten sie alle überleben.
1963 traten meine Eltern mit den beiden Geschwistern und mir die nächste Reise an. Der ersten Klasse in Argentinien folgten in Israel vier weitere. Spanisch und Deutsch halfen nicht. In meiner Erinnerung ist die erste Zeit dick rot angestrichen: Im Unterricht verstand ich kein Wort. Es war das sprichwörtliche kalte Wasser, in das ich hineingeworfen wurde. Andere Ereignisse sind mir noch stärker im Gedächtnis geblieben. Im Juni 1967 fand der arabisch-israelische Sechstagekrieg statt. Wir versteckten uns im Bunker, hörten die Düsenjäger, hatten Angst.
Es war vor allem die Sehnsucht meines Vaters nach seiner Heimatstadt
Wie viele Gründe es im selben Jahr gab, Israel wieder zu verlassen, weiß ich nicht exakt. Es war vor allem die Sehnsucht meines Vaters nach seiner Heimatstadt. Vermutlich spielte aber auch die Perspektivlosigkeit in einem von Feinden umgebenen Land eine Rolle. Richtig angekommen waren wir in dem Staat, in dem man Hebräisch spricht, wohl nicht. In der neuen Schöneberger Schule in Berlin dann wieder eine neue Sprache – Deutsch. 1970 wurde ich zur Barmizwa in der Synagoge am Fraenkelufer aufgerufen. Im selben Jahr wechselte ich auf das Sophie-Charlotte-Gymnasium. Ich sprach nun perfekt Deutsch und war damit dreisprachig. Geprägt vermutlich durch die Familiengeschichte, interessierte mich die Politik, die Teil des Geschichtsunterrichts war. Schnell war eine Neigung zu »linksorientierten Themen« da. Sport war mein zweites Lieblingsfach.
Wir Schüler waren keine »68er«-Studentenprotestler. Einige waren aber stark von Willy Brandt beeindruckt, auch ich. Unserer Schulzeitung sah man das an. Daneben erwachte meine Faszination für den Fußball. Mein Vater und mein älterer Bruder hatten mich bei Hertha BSC angemeldet. In dem Verein kickte ich von der C-Jugend an bis zu den A-Junioren, spielte sogar in der Berliner Auswahl.
Die Verbindung meiner beiden Hauptinteressen fand ihren vorläufigen Höhepunkt an einem Tag des Streiks, an dem wir Forderungen für mehr Schülerrechte durchzusetzen versuchten. Ich ging mit der großen Sporttasche zur Demo. Alle wunderten sich über das Mitbringsel, aber anschließend wollte ich zum Training. Mein Fleiß sollte fast belohnt werden: Damals hofften ein Mannschaftskamerad und ich auf einen Profivertrag. Er hat es auch geschafft.
2015 durfte ich das Fußball-Turnier bei den European Maccabi Games leiten.
Meine glorreiche Idee aber, kurz vor Saisonabschluss noch zum Skifahren aufzubrechen, wurde mir zum Verhängnis: Ich verletzte mich sehr schlimm am Knie. Das warʼs. Danach konnte ich nur noch locker kicken oder mit Schmerztabletten spielen.
Bei Hertha wollte man mich aber halten. So hatte ich die Idee, bereits als junger Mann einen Trainerschein zu erwerben. Man hatte Vertrauen, besonders mein Mentor Kurt Böhnke. Er hatte bereits in den 30er-Jahren einer Jugend-Meistermannschaft angehört und ebnete mir den Weg. Ich trainierte die B- und A-Jugend jeweils fünf Jahre lang. Darüber hinaus führten wir neben dem Fußball viele politische Diskussionen.
Es gab einige unter den Jugendlichen, die später bei Hertha BSC oder bei anderen Klubs zu Lizenzspielern wurden. Parallel nahm ich 1977/78 an der FU Berlin mein Studium auf. Geschichte, Sport und Politik waren richtig für mich. Der Fußball bestimmte aber dennoch mein Leben. Wie groß mein Anteil am Aufschwung der Jugendarbeit beim Klub war, weiß ich nicht, aber einen gewissen Anteil hatte ich sicher. Die früher »Fußball-Lehrer« genannte Lizenz konnte ich wegen meiner physischen Einschränkung nicht erwerben. Immerhin ist es dann die A-Lizenz geworden.
Früher gab es in den Vereinen nur wenige Jugendliche mit ausländischen Wurzeln. Bei mir spielten einige, die mich auch gern bei täglichen Problemen hinzuziehen durften. Meist stammten ihre Eltern aus der Türkei. Empathie und eigene Erfahrung machten mich als Ansprechpartner glaubwürdig. Mit 30 folgte ich einem Ruf des SC Charlottenburg als Trainer der Herrenabteilung. Später kamen die Reinickendorfer Füchse und Tennis Borussia dazu – hier war ich auch Sportlicher Leiter.
Bei dieser EM in England trug ich im Finale das Trikot der deutsch-jüdischen Auswahl
1979 gab es den ersten Kontakt zu Makkabi Deutschland, der mir vorher unbekannt war. Trotz der Knieschäden wollte man mich für die Auswahl, die in Leicester an einem Turnier teilnehmen sollte. Bei dieser Europameisterschaft in England trug ich im Finale das Trikot der deutsch-jüdischen Auswahl. Wir wurden Zweiter. Ab diesem Zeitpunkt ist der Kontakt zum jüdischen Sport nicht mehr unterbrochen worden. Meine politische Sicht, die Herkunft und der Sport fanden hier zusammen. 1989 bin ich sogar als Trainer für die Fußballer von Makkabi Deutschland eingestiegen.
Bei der Makkabiade in Israel habe ich die Herrenmannschaft gecoacht.
Bei der Makkabiade in Israel habe ich die Herrenmannschaft gecoacht. Später auch bei Europameisterschaften in Marseille und Glasgow. In Sachen Fußball hatte ich früher schon in Katalonien einige Male über den Tellerrand gucken können und meine Kenntnisse erweitert.
2005 hatte TuS Makkabi Berlin Ambitionen aufzusteigen, damals noch in der Bezirksliga. Ich half gern, und schnell ging es in die Verbandsliga. Wir waren zunächst heimatlos, sodass Strukturen verbessert werden mussten. Mit Tuvia Schlesinger, früher Polizist und auch Vertreter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, gelang das. Wir fanden eine Heimat in Charlottenburg. Mit Stolz kann ich sagen, dass mein Vorschlag, den Platz in der Siedlung Eichkamp in Julius-Hirsch-Sportanlage umzubenennen, angenommen wurde.
Ich habe Dinge gesehen und gehört, die auf keinen Sportplatz gehören
Der deutsche Nationalspieler jüdischen Glaubens war in Auschwitz ermordet worden. Ein Jahr vor dem Tod meines Vaters 2007 wurde die Anlage eingeweiht. Er war auch dabei und entsprechend gerührt. Nicht alle waren und sind wohlgesonnen. Ich habe Dinge gesehen und gehört, die auf keinen Sportplatz gehören. Es ist eine Tatsache, dass offener wie versteckter Antisemitismus – speziell auf Fußballplätzen – leider nach wie vor existieren.
Mit meiner Art, solche Themen auch zu benennen, war es in der Vergangenheit nicht immer einfach im Umgang mit Institutionen. Gern hätte ich noch mehr für Verständigung und Toleranz im Berliner Fußball getan. Meine aktuellen Tätigkeiten für Makkabi Deutschland und im Aufsichtsrat bei Tennis Borussia Berlin gehören hoffentlich noch lange zu meinem Alltag. 2015 durfte ich sogar noch die Organisation des Fußball-Turniers bei den European Maccabi Games leiten. Es kämpften etwa 2300 Sportler aus 38 Ländern um Medaillen.
In dieser Zeit erinnerte ich mich oft an meinen Vater. Einmal waren wir auf einen Glockenturm gestiegen. Er hatte schon große Schwierigkeiten auf den Treppen gehabt. Sprachlos war er beim Blick auf das Maifeld, aber nicht deswegen, sondern weil ihn die Gedanken an seine Flucht ausgerechnet kurz nach Olympia 1936 völlig übermannt haben mussten. Er sprach ohne Worte. Und ich fragte nicht.
Mein Vater war ein sehr religiöser Mensch. Ich versuche, ihm zu folgen. Bei der kleinen Betergemeinde »LeDor Vador« trifft man mich als Schabbat-Beter und zu sämtlichen Feiertagen an. Es herrscht eine sehr einladende und familiäre Atmosphäre. Nicht nur bei den Gottesdiensten denke ich oft an meine lieben, seligen Eltern. Ihnen verdanke ich alles.
Aufgezeichnet von Frank Toebs