Nichtstun

Faulenzen erlaubt

Manchmal ist es wunderbar, wenn nichts passiert. Einfach gar nichts. Foto: Thinkstock

Es ist sehr heiß. Zwei Männer stehen auf einem kleinen Balkon. Die Gegend ist nicht die feinste, das Haus ein wenig heruntergekommen. Aber es besitzt einen kleinen Balkon, im siebten Stock. Ein Nachbar qualmt, ein anderer wendet seine Kartoffeln im Fett von gestern, der im Fenster darunter dreht an seinem Radio. Kalter Rauch, altes Fett und Marschmusik hängen in der Luft und machen vor dem kleinen Balkon nicht Halt.

Die beiden Männer bekommen davon nichts mit. Ihre Augen sind in die Ferne gerichtet, ihr Blick geht vorbei an den dunklen Häusern, den klapprigen Gerüsten, den grauen Türmen, den schiefen Dächern. Bis sie glauben, das Meer zu entdecken.

Bleicheimer
Zwei Männer stehen auf dem Balkon. Der eine hat die Hosenbeine hochgekrempelt. Seine bloßen, haarigen Füße stecken in einem Blecheimer, der mit ein paar Litern kühlem Wasser aus der Leitung gefüllt ist, plus einer Packung Speisesalz. Jodiert.

Über sein weißes Hemd spannen sich graue Hosenträger. Ein altes blasskariertes Taschentuch mit festen Knoten an den vier Ecken, die ihm wie kleine Öhrchen vom Kopf abstehen, schützt ihn vor der Sonne des Südens. Ehrlich gesagt, dieser Herr sieht ein wenig verstaubt aus. Irgendwie von gestern, wenn nicht von vorgestern.

Der andere dagegen ... , na ja, der andere liebt es, in passender Gesellschaft den Clown zu geben. Er ist nicht alt, nicht jung, sein Gesicht umrahmen dunkelkrause, wilde Haarbüschel, die ihm aus Kopf und Kinn wachsen. Über einer kurzen sonnenverschossenen, etwas zu weiten Hose, verziert mit ein paar dunklen Spritzern vom nahen Meer, trägt er ein schwarzes Hemd. Sonst nichts (höchstens noch eine Unterhose, aber das ist seine Privatsache).

Die beiden Männer schauen sich nicht an. Sie sehen in die Ferne aufs Meer und sind sich einig. Habe ich schon gesagt, dass der eine von den beiden Siegfried heißt und der andere Georges? Der linke heißt Siegfried und der rechte Georges. Ziemlich unterschiedliche Namen, wie ich finde. Und doch. Die beiden sind sich einig.

Kein Mensch hätte je gedacht, dass sie sich jemals begegnen würden. Die gelehrte Welt hätte das geradezu für ausgeschlossen gehalten. Aber jetzt stehen sie da, und weil nichts dagegen spricht, reden sie miteinander – das Meer (sie glauben nämlich, sie sehen das Meer) immer fest im Blick.

Langeweile »Was machst du gerade?«, fragt der eine, und es spielt wirklich keine Rolle, welcher der beiden das ist. »Ich langweile mich«, antwortet der andere.

»Formidable«, sagt der eine, das ist Französisch und heißt in etwa so viel wie »wunderbar«. »Wenn die Langeweile kommt, sollte man ihr nicht aus dem Weg gehen«, fährt er fort. »Nein, im Gegenteil. Man sollte sie mit offenen Armen empfangen ...«, bestätigt sein Nebenan.

»Und die Welt zum Stillstand bringen.« »Man sollte sie genüsslich durchschreiten.« »Und durch und durch spüren«, »... dat es eenen jibt!« »Dass es einen gibt!«

Jetzt schreit der eine oder andere beinahe ein bisschen. »Finger weg von unserer Langeweile!«, fordert der eine. »Der Langeweile eine Chance!«, der andere. »Wer vor ihr davonrennt«, sagt der eine, »den wird sie einholen ...«, der andere.

»Ende der Dauerberieselung, Ende des Dauerprogramms!«, rufen sie gemeinsam und glücklich in den warmen, leeren Abendhimmel. Dann schweigen sie – und beschließen ihre Geschichten und Gedanken über die große Langeweile aufzuschreiben.

Siegfried Kracauer (1889–1966) war ein deutscher Journalist, Schriftsteller, Soziologe und Filmwissenschaftler. Der Franzose Georges Perec (1936–1982) war ebenfalls (ein etwas verrückter) Schriftsteller, außerdem hat er Filme gedreht. Kracauer wie Perec waren erklärte Fans der Langeweile, worüber sie auch geschrieben haben. Ihr fiktives Sommertreffen auf dem Balkon hat die Jüdische Allgemeine arrangiert.

Hannover

Die Vorfreude steigt

Die Jewrovision ist für Teilnehmer und Besucher mehr als nur ein Wettbewerb. Stimmen zu Europas größten jüdischen Musikevent

von Christine Schmitt  29.03.2024

Dialog

Digital mitdenken

Schalom Aleikum widmete sich unter dem Motto »Elefant im Raum« einem wichtigen Thema

von Stefan Laurin  28.03.2024

Jugendzentren

Gemeinsam stark

Der Gastgeber Hannover ist hoch motiviert – auch Kinder aus kleineren Gemeinden reisen zur Jewrovision

von Christine Schmitt  28.03.2024

Jewrovision

»Seid ihr selbst auf der Bühne«

Jurymitglied Mateo Jasik über Vorbereitung, gelungene Auftritte und vor allem: Spaß

von Christine Schmitt  28.03.2024

Literaturhandlung

Ein Kapitel geht zu Ende

Vor 33 Jahren wurde die Literaturhandlung Berlin gegründet, um jüdisches Leben abzubilden – nun schließt sie

von Christine Schmitt  28.03.2024

Antonia Yamin

»Die eigene Meinung bilden«

Die Reporterin wird Leiterin von Taglit Germany und will mehr jungen Juden Reisen nach Israel ermöglichen. Ein Gespräch

von Mascha Malburg  28.03.2024

Hannover

Tipps von Jewrovision-Juror Mike Singer

Der 24-jährige Rapper und Sänger wurde selbst in einer Castingshow für Kinder bekannt.

 26.03.2024

Party

Wenn Dinos Hamantaschen essen

Die Jüdische Gemeinde Chabad Lubawitsch lud Geflüchtete und Familien zur großen Purimfeier in ein Hotel am Potsdamer Platz

von Katrin Richter  25.03.2024

Antisemitismus

»Limitiertes Verständnis«

Friederike Lorenz-Sinai und Marina Chernivsky über ihre Arbeit mit deutschen Hochschulen

von Martin Brandt  24.03.2024