Porträt der Woche

Familienmensch

Selina Zehden möchte die Zeit mit ihren Kindern genießen und hilft anderen Leuten

von Gerhard Haase-Hindenberg  13.11.2023 08:00 Uhr

»Ich hoffe und bete für friedlichere Zeiten in Israel und für Juden weltweit«: Selina Zehden (32) aus Berlin Foto: Stephan Pramme

Selina Zehden möchte die Zeit mit ihren Kindern genießen und hilft anderen Leuten

von Gerhard Haase-Hindenberg  13.11.2023 08:00 Uhr

Eigentlich ist mein Alltag im Moment nicht sehr spektakulär. Er dreht sich vorwiegend um meine anderthalbjährige Tochter. Ich bin in Elternzeit, treibe Sport und versuche meine Angehörigen bei ihren jeweiligen Projekten zu unterstützen. Ich helfe meinem Freund, dem Vater meiner Kinder, der gerade eine Hausverwaltung aufbaut.

Mein Sohn ist schon dreieinhalb und wird halbtags im jüdischen Kindergarten betreut. Wenn ich ihn am Nachmittag abhole, startet mein Tag in die zweite Runde. Mehrmals in der Woche gehe ich mit beiden zu meiner Großmutter, die mir sehr viel bedeutet, damit sie ein bisschen Zeit mit ihren Urenkeln verbringen kann. Am Abend findet dann das Familienleben zu viert statt.

Mein Leben war entspannt, bis am 7. Oktober die Hamas-Terroristen in den Süden Israels einfielen und ein Massaker anrichteten. Ich bin gedanklich permanent bei unserer Familie vor Ort und stehe in ständigem Austausch mit ihnen. Die entsetzlichen Bilder von ermordeten und entführten Kindern sind für mich unerträglich. Als jüdische Mutter bin ich besonders geschockt, denn meine Kinder sind jüdisch – der einzige Grund, weshalb diese auf den Bildern sterben mussten. Und wenn ich dann Videos von palästinensischen Kindern sehe, die schon im jüngsten Alter einer Gehirnwäsche unterzogen werden, bleibt nur zu hoffen, dennoch irgendwann in eine friedliche jüdisch-arabische Zukunft blicken zu können.

Ich bin in einer Berliner jüdischen Familie groß geworden, und wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, so geschieht dies mit einem Gefühl der Geborgenheit. Besonders, weil bei uns zu Hause immer das Prinzip der offenen Tür herrschte und jeder willkommen war. Das merkt man, glaube ich, auch heute an meiner Persönlichkeit, weil ich gern mit vielen Menschen zusammen bin. Es gab immer für alle zu essen und zu trinken. Gleichzeitig war es aber auch ein behüteter Ort, an dem wir mit meiner Oma, Tante, Onkel, Cousinen und Cousins freitags den Schabbat gefeiert haben.

KOSMOS Ich lebte damals in einem nahezu geschlossenen jüdischen Kosmos, wozu es auch gehörte, dass ich den jüdischen Kindergarten und anschließend die Heinz-Galinski-Grundschule besuchte. Erst nach meiner Batmizwa war ich mal in einem normalen Sportclub. Dort war ein arabisches Mädchen, das wie auch ich nach dem Sportkurs vor der Anlage stand und auf ihre Eltern wartete. Eines Tages waren da ein paar arabische Jungs, und die sagten zu mir: »Wir haben gehört, dass du jüdisch bist. Wärst du ein Junge, würden wir dich jetzt verprügeln!« Schlagartig war ich in der gesellschaftlichen Realität außerhalb des jüdischen Kosmos angekommen. In diesem Moment habe ich gespürt, dass die Welt da draußen eben anders tickt.

Mein Leben war entspannt – bis zum 7. Oktober.

Mir war das Jüdische immer wichtig. Ich war auch gern in Israel, wo meine Oma früher eine Wohnung hatte, und ich habe auch ein Interesse daran gehabt, Hebräisch sprechen zu können. Ich verstehe die Sprache sehr gut, würde mir aber noch mehr Praxis wünschen, um auch noch besser Hebräisch mit unserer Familie in Israel sprechen zu können. Nach der sechsten Klasse besuchte ich eine reguläre staatliche Oberschule. Dort gab es einen Kurs »Die Weltreligionen im Vergleich«, den ein Ethik-Lehrer leitete. Der Kurs wurde auch von einigen muslimischen Schülern belegt, die durchaus Interesse an Bildung und Austausch, aber auch ein unglaublich tradiertes Weltbild hatten. Der Ethik-Lehrer musste so manche hitzige Diskussion schlichten, die schnell ins Politische abgedriftet war.

Wobei ich mich nur ungern in der Rolle der Verteidigerin der israelischen Politik sehe, nur weil ich jüdisch bin. Aber ich war da nicht allein. In den drei Klassen meines Jahrgangs waren wir etwa zehn jüdische Kinder. Generell war mir diese Schule unweit des Kurfürstendamms von Beginn an sympathisch, weil sie in Bezug auf das Judentum sehr engagiert war und beispielsweise auch Zeitzeugengespräche durchführte.

Nach dem Abitur begann ich ein Studium an einer privaten Hochschule, das »Communication and Media Management« hieß. Was mir dabei besonders gefallen hat, war, dass man an dieser Hochschule »gezwungen« wurde, ins Ausland zu gehen. Ich war zunächst an der Oxford Brookes University, wo ich in einem winzigen Zimmer mit vier anderen Studentinnen in einer Wohngemeinschaft lebte. Danach machte ich zwei Praktika in London – während der Olympischen Spiele unter anderem bei einer Plattform für Veranstaltungen im Social-Media-Marketing. Ich hatte schon in Berlin neben dem Studium in einem Hotel-Management im Bereich Sales und Marketing gearbeitet.

KOMMUNIKATION Unmittelbar nach dem Bachelorabschluss startete ich in einer der renommiertesten deutschen PR-Agenturen im Immobilienbereich als Trainee. Ich fand es toll, dass ich – wenige Tage nach dem Studienabschluss – hier mein eigenes Büro bekommen habe und vom ersten Tag an direkt am Kunden war. Ich habe die Strategien für die Positionierung meiner Kunden mit entwickelt und umgesetzt. Wir organisierten die Kommunikation für sämtliche wesentlichen Player im Immobilienmarkt.

Dabei habe ich schon bald meine eigene Arbeitsweise entwickelt. Nach anderthalb Jahren empfand ich einen hohen Stress­level, hatte aber gleichzeitig das Gefühl, dort nichts Neues mehr zu lernen. Ich wollte nun mal die Unternehmerseite kennenlernen. Damals begann der Trend mit dem Online-Couponing, und ich kam in Kontakt mit einer Firma, die eine Plattform betrieb, die Gutscheine und Coupons für sämtliche Onlineshops zur Verfügung stellte.

Mein Job sollte es sein, einen Business-to-Business-Geschäftszweig aufzubauen, also neue Geschäftspartner zu finden. Plötzlich hatte ich einen besseren Titel, ein höheres Gehalt und dabei einen ruhigeren Job. Was wollte ich mehr?

Dann aber geriet ich zwischen die Fronten von firmeninternen Intrigen gegen meinen Vorgesetzten, wofür ich instrumentalisiert werden sollte. Ich verhielt mich loyal, wenngleich ich die Kritik an ihm verstehen konnte. Also hörte ich nach einem Jahr und drei Monaten dort auf. Ich habe dann einige Fortbildungen absolviert, um mich in den verschiedenen neuen Bereichen des Marketings fit zu machen. Schließlich umwarb mich eine neu gegründete Co-Working-Firma, und ich kehrte wieder zurück in den Immobilienbereich.

Die neue Firma mietete Großimmobilien an, renovierte und möblierte sie und vermietete schließlich für unterschiedliche Zeiträume. Es war alles anfangs noch etwas unkoordiniert, und ich hatte plötzlich verschiedene Aufgaben – von der Vermietung der Immobilien, der Erstellung der Verträge bis zur Einstellung neuer Mitarbeiter. Vieles gehörte gar nicht zu meinem eigentlichen Job, aber mir hat es Spaß gemacht, und aufgrund meiner vergangenen Tätigkeiten hatte ich die entsprechende Expertise. Als wir sehr rasch expandierten, suchte ich nach neuen Immobilien, und weil ich von früheren Jobs die ganzen medialen Kontakte hatte, wurden wir öffentlich wahrgenommen. Bald hatten wir in verschiedenen Ländern über 30 Standorte und mehr als 200 Mitarbeiter.

Mein Chef hatte mir immer sehr viel Freiraum gelassen und mich schließlich zum COO gemacht, zum Chief Operating Officer. Passend zum zehnjährigen Jubiläum mit meinem Freund haben wir erfahren, dass ich schwanger war. Inzwischen habe ich eben zwei Kinder, und ich möchte so viel Zeit wie möglich mit ihnen genießen, vor allem, so lange sie noch klein sind.

WERTE Meinen Freund habe ich vor 14 Jahren auf einer Home-Party bei Freunden kennengelernt. Er ist selbst ohne Religion aufgewachsen, aber mehr oder weniger zufällig mit jüdischen Freunden und Werten. Wäre er einer anderen Religion zugehörig, wäre das für mich wahrscheinlich eine große Herausforderung geworden. Meine jüdische Kindheit hat mich noch mal besonders eingeholt, seit mein Sohn in den Kindergarten der Gemeinde geht. Da gibt es noch Erzieherinnen, die als ganz junge Frauen schon dort waren, als ich selbst in diese Kita ging.

Und manche, mit denen ich damals dort war, treffe ich heute als Eltern wieder. Ich war bisher immer glücklich und dankbar für meine kleine heile jüdische Welt, die aktuell durch diese furchtbaren Schatten des Hamas-Terrorismus und seiner Ausstrahlung bis nach Berlin eine herbe Erschütterung erlebt. Ich hoffe und bete für friedlichere Zeiten in Israel und für Juden weltweit.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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