Interview

»Extreme Positionen haben bei uns keinen Platz«

Mit 59,7 Prozent zum JSUD-Präsidenten gewählt: Ron Dekel (23) Foto: Gregor Matthias Zielke

Interview

»Extreme Positionen haben bei uns keinen Platz«

Der neue JSUD-Präsident Ron Dekel über Polarisierung in der jüdischen Gemeinschaft, Antisemitismus auf dem Campus und die Arbeit der Regionalverbände

von Joshua Schultheis  04.03.2025 17:40 Uhr

Ron Dekel, Sie sind am Sonntag auf der Vollversammlung der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) in Hamburg zum neuen Präsidenten des Verbandes gewählt worden. Wie fühlen Sie sich?
Es ist wahnsinnig überwältigend. Ich kann das alles noch gar nicht wirklich begreifen. Plötzlich stehe ich an der Spitze einer Organisation, von der ich lange gar nicht wusste, dass sie existiert. Ich bin mit zehn Jahren aus Israel nach Deutschland gekommen und dann in einem Dorf in Bayern aufgewachsen. Erst zu Beginn meines Studiums in München fand ich Zugang zu den Strukturen des jüdischen Aktivismus und habe mich im Vorstand des Verbands Jüdischer Studenten in Bayern engagiert. Dass ich jetzt zum JSUD-Präsidenten gewählt wurde, ist eine Riesenehre.

Was ist das Erste, was Sie in Ihrem neuen Amt jetzt angehen werden?
Ich möchte zusammen mit allen Regionalverbänden der jüdischen Studierenden einen Forderungskatalog erstellen, mit diesem durch die 16 Bundesländer reisen und den Kultusministerinnen und -ministern vorlegen. Wir müssen Druck ausüben, damit wir Antisemitismusbeauftragte an allen Hochschulen bekommen und Exmatrikulationen nach besonders schweren antisemitischen Vorfällen endlich stattfinden.

Nach dem 7. Oktober hat der Antisemitismus und Israelhass an den Universitäten zugenommen. Wie würden Sie die Situation jüdischer Studierenden in Deutschland 17 Monate später beschreiben?
Ich weiß von sehr vielen jüdischen Studierenden, dass sie sich nicht getraut haben, zur Universität zu gehen. Das ist jetzt immer noch so, das Unsicherheitsgefühl ist nach wie vor da. Auch wenn viele der israelfeindlichen Protestcamps mittlerweile abgebaut wurden, ist der Grundantisemitismus, den sie in die Hochschulen gebracht haben, geblieben. Insbesondere in vielen geisteswissenschaftlichen Fächern ist es weiterhin unerträglich. Das gilt für die Großstädte, aber eben auch für die kleineren Universitäten. Als JSUD sollte eines unserer Ziele sein, darauf hinzuweisen: Nicht nur in Berlin und München gibt es ein Problem, sondern zum Beispiel auch in Gießen.

»Der 7. Oktober und seine Folgen haben unglaublich viele junge Jüdinnen und Juden politisiert.«

Vom Antisemitismus an Hochschulen abgesehen, welches Thema ist Ihnen noch besonders wichtig?
Wir erleben ein Gemeindesterben. Wir als jüdische Studierende sind hier in der Pflicht zu zeigen, wie man sich positiv besetzt und selbstbewusst in Deutschland als Jüdinnen und Juden zeigen kann. Das schaffen wir, indem wir uns auf die Traditionen besinnen und noch mehr gemeinsame Events und Erlebnisse für die junge jüdische Community organisieren. Aber auch, indem wir stärker zu Bewusstsein bringen, wie sehr wir Teil der deutschen Gesellschaft und Geschichte sind. Ein Beispiel aus München, wo ich derzeit wohne: Die Wiesn haben ein herausragendes jüdisches Erbe. Selbst der junge Albert Einstein hat auf dem Oktoberfest gearbeitet!

Das war die größte JSUD-Vollversammlung bisher. Wie erklären Sie sich das wachsende Interesse an dem Verband?
Jetzt muss ich leider doch wieder zurück auf Antisemitismus kommen, denn der 7. Oktober und seine Folgen haben unglaublich viele junge Jüdinnen und Juden politisiert. Umso wichtiger ist es, dass wir die Motivation der Leute, die jetzt in unsere Strukturen gefunden haben, aufrechterhalten.

Sie waren zuvor in einem Regionalverband aktiv und nicht auf Bundesebene in der JSUD. War das bei der Vorstandswahl ein Vor- oder ein Nachteil?
Ich glaube, es war in der Tat ein Vorteil, dass ich aus den Regionalstrukturen komme. Bildung ist bekanntlich Ländersache, und auch wenn es um die Sicherheit von Jüdinnen und Juden auf dem Campus geht, sind vor allem die Regionalverbände mit ihrem guten Draht zu den Regierungen der Bundesländer gefragt. Mein Fokus im Wahlkampf auf die Arbeit auf regionaler Ebene hat offenbar viele überzeugt.

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Ihr Wahlkampf war auch von der klaren Absage an jede Zusammenarbeit mit extremistischen Strömungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft geprägt. Für wie groß erachten Sie die Gefahr einer Radikalisierung unter jungen Jüdinnen und Juden?
Vor dem Hintergrund der Bundestagswahl mache ich mir darüber tatsächlich Sorgen. Ich kriege auch in persönlichen Gesprächen gespiegelt, dass wir uns in der jüdischen Community davor in Acht nehmen müssen, wie wir mit den Extremen agieren. Diese JSUD-Wahl war ein wichtiges Zeichen, dass bei uns extreme Positionen keinen Platz haben. Wenn wir den radikalen Rändern mehr Raum geben, wächst die Gefahr, dass sich viele andere nicht mehr repräsentiert und wertgeschätzt fühlen. Dadurch würden wir so viel mehr verlieren als durch den Ausschluss einiger Extremisten.

Wie wollen Sie angesichts dieser innerjüdischen Polarisierung den Zusammenhalt in der Gemeinschaft stärken?
Wir brauchen mehr Diskussionsräume, in denen diese Polarisierung angesprochen und diskutiert werden kann. Die JSUD will alle Jüdinnen und Juden zwischen 18 und 35 repräsentieren. Deshalb wäre es falsch, über dieses wichtige Thema zu schweigen.

Mit dem Präsidenten der Jüdischen Studierendenunion Deutschland sprach Joshua Schultheis.

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