Erinnerung

»Es fehlt an allem«

Niedergeschrieben: Briefe gehören zu den eindrucksvollsten Zeugnissen von Haftbedingungen, Drangsalierungen und Entbehrungen. Foto: dpa

Am 1. Juni 1987 sagte Paul Niedermann zum ersten Mal im Prozess gegen Klaus Barbie aus. Der »Schlächter von Lyon« war auch für die Deportation der in der »Maison d’Izieu« versteckten 44 Kinder verantwortlich. Aus dem Kinderheim hatte der 16-jährige Paul rechtzeitig in die Schweiz fliehen können. Doch erst im Barbie-Prozess schaffte er es, über das Erlebte zu sprechen. »Bis dahin fand ich die Worte nicht. Aber als Zeuge kann man nicht ausweichen«, sagt Paul Niedermann heute.

Nach dem Prozess wollte seine Heimatstadt Karlsruhe mit den ehemaligen jüdischen Bürgern wieder in Kontakt treten und lud sie zu einem Treffen ein. »Das war das erste Mal, dass eine deutsche Stadt mit über 100.000 Einwohnern ihre jüdischen Mitbewohner wieder einlud.« Für ihn war es ein unglaublicher Moment. »Dieses Treffen 1988 gehört zu den bewegenden Momenten in meinen letzten Jahrzehnten«, sagt Niedermann. »Ich habe heute wieder Freunde in Deutschland, und ich lege dabei jedes Wort auf die Goldwaage.«

aufgehoben Zu seinem 80. Geburtstag übergab der am 1. November 1927 in Karlsruhe Geborene, der seit mehr als 70 Jahren in Frankreich lebt, seiner Heimatstadt 109 Briefe seiner Verwandten. Sie waren aus drei Internierungslagern in Südfrankreich geschmuggelt worden. Eine Tante im amerikanischen Baltimore hatte sie alle fein säuberlich aufgehoben. »Als sie mit 103 Jahren starb, tauchten diese Briefe auf«, erzählt Paul Niedermann. »Ich dachte, mich trifft der Schlag.« Zehn Jahre lang konnte er die Briefe nicht anrühren. »Da sah ich die Handschrift meiner Mutter wieder, das war ganz schlimm.«

Kurz vor seinem 13. Geburtstag war Paul Niedermann im Oktober 1940 aus Karlsruhe mit seiner Familie und rund 6.000 Juden aus Baden nach Frankreich deportiert worden. Von hier schreibt Paul Niedermanns Mutter Friederike, genannt Tata, an Familienangehörige und Freunde. Es sind Hoffnungsappelle an sich selbst. Sie schickt Hilfegesuche an die anderen und sie sorgt sich um die beiden Söhne und ihre Bildung. Und ständig bleibt die Frage, wie und wann man aus dem Lager wieder herauskommt.

Zutiefst Menschliches ist hier nachzulesen, Empfindungen, Ängste und scheinbar ganz Alltägliches, wie Wäsche mit eiskaltem Wasser von Hand zu waschen. »Tut, was Ihr könnt, Geld und Liebesgaben, es fehlt an allem. Am 22. Okt. sind wir von zu Hause weg mit dem Allernotwendigsten«, schreibt sie.

Religiöser Halt Im Lager versucht sie das religiöse Leben beizubehalten: »Am Schabbes ist unser Paul nun Barmizwa geworden«, berichtet die Mutter in einem Brief. »Diese Feierlichkeit und Tragik einer Barmizwa kann man nicht auf dem Papier schildern. Hoffentlich kann ich alles einmal persönlich erzählen.«

Man trifft den einen oder anderen Bekannten aus der jüdischen Gemeinde in Karlsruhe oder Baden, kann sich aber nur kurz und oftmals durch den Stacheldrahtzaun getrennt sprechen. Das Einzige, was Freude bereitet, ist, wenn kleine Hilfspäckchen oder Briefe ankommen – und »die gute Luft« am Fuße der Pyrenäen.

Paul Niedermann hat seine Erinnerungen und die Briefe seiner Mutter aufgehoben und gegenübergestellt. Auf die Korrespondenz der Familie folgen seine eigenen Gedanken. Vom Rausschmiss aus der Schule bis zur totalen Ausgrenzung, und das in einer verhältnismäßig jungen Stadt wie Karlsruhe, wie Niedermann selbst beschreibt: »Die badischen Markgrafen waren ja bekannt für ihre Judenfreundlichkeit und die relativ frühe Emanzipierung der jüdischen Mitbürger.« Nach der Stadtgründung 1715 durften sich auch Juden mit relativ günstigen Aufnahmebedingungen in Karlsruhe niederlassen, in Baden erhielten sie bereits 1862 die rechtliche Gleichstellung – in ganz Bismarck-Deutschland erst 1871.

Zweisprachig Entstanden ist so ein sehr persönliches und lebendiges Bild der Lebensumstände jüdischer Familien, Nazideutschlands sowie der deutsch-französischen Beziehungen. Das Stadtarchiv Karlsruhe hat ganze Arbeit geleistet, indem es die erhalten gebliebenen Schriften der Niedermanns komplett digitalisiert und die zweisprachige Publikation in Deutsch und Französisch ermöglicht hat. Auf den 542 Buchseiten sind zahlreiche historische Fotos abgebildet, die Paul Niedermann ebenfalls zur Archivierung übergeben hat. »Ich hatte sie wieder trocknen müssen, denn ich war auf der Flucht in den Bach gefallen.«

Ernst Otto Bräunche und Jürgen Schuhladen-Krämer (Hrsg.): Briefe – Gurs – Lettres. Briefe einer badisch-jüdischen Familie aus französischen Internierungslagern – Paul Niedermann. Erinnerungen – Mémoires, Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe, Info Verlag 2011, 542 Seiten, € 26,80.

Ehrung

Göttinger Friedenspreis für Leon Weintraub und Schulnetzwerk

Zwei Auszeichnungen, ein Ziel: Der Göttinger Friedenspreis geht 2026 an Leon Weintraub und ein Schulprojekt. Beide setzen sich gegen Rassismus und für Verständigung ein

von Michael Althaus  13.11.2025

Israel

Voigt will den Jugendaustausch mit Israel stärken

Es gebe großes Interesse, junge Menschen zusammenzubringen und Freundschaften zu schließen, sagt der thüringische Regierungschef zum Abschluss einer Israel-Reise

von Willi Wild  13.11.2025

Karneval

»Ov krüzz oder quer«

Wie in der NRW-Landesvertretung in Berlin die närrische Jahreszeit eingeleitet wurde

von Sören Kittel  13.11.2025

Jüdische Kulturtage Berlin

Broadway am Prenzlauer Berg

Vom Eröffnungskonzert bis zum Dancefloor werden Besucherrekorde erwartet

von Helmut Kuhn  13.11.2025

Justiz

Anklage wegen Hausverbots für Juden in Flensburg erhoben

Ein Ladeninhaber in Flensburg soll mit einem Aushang zum Hass gegen jüdische Menschen aufgestachelt haben. Ein Schild in seinem Schaufenster enthielt den Satz »Juden haben hier Hausverbot«

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025

Hessen

Margot Friedländer erhält posthum die Wilhelm-Leuschner-Medaille

Die Zeitzeugin Margot Friedländer erhält posthum die höchste Auszeichnung des Landes Hessen. Sie war eine der wichtigsten Stimme in der deutschen Erinnerungskultur

 12.11.2025

Berlin

Touro University vergibt erstmals »Seid Menschen«-Stipendium

Die Touro University Berlin erinnert mit einem neu geschaffenen Stipendium an die Schoa-Überlebende Margot Friedländer

 12.11.2025

Jubiläum

»Eine Zierde der Stadt«: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in Berlin eröffnet

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin eingeweiht. Am Dienstag würdigt dies ein Festakt

von Gregor Krumpholz, Nina Schmedding  11.11.2025