Paul-Spiegel-Preis

»Es braucht Widerspruch«

Dass Zivilcourage notwendig ist, sagt viel über den Zustand einer Gesellschaft, ist Carolin Emcke überzeugt. Foto: EiB

Paul-Spiegel-Preis

»Es braucht Widerspruch«

In ihrer Laudatio würdigte die Publizistin Carolin Emcke den Fußballverein Tennis Borussia Berlin und die Aktivistinnen von »Omas gegen Rechts«. Wir dokumentieren ihre Rede in Auszügen

von Carolin Emcke  07.07.2022 14:55 Uhr

Ich bedanke mich dafür, hier heute sprechen zu dürfen, aber, um ehrlich zu sein: Es fällt mir nicht leicht. Es ist eine ambivalente Aufgabe, eine, die sich nicht allein mit Freude, sondern nur zugleich mit Unbehagen und zornigem Schmerz erfüllen lässt. Denn: Was heißt das, wenn Menschen oder Vereine, die sich gegen Antisemitismus wenden, die nicht wegschauen, sondern einschreiten, die das ausgrenzen, was ausgegrenzt gehört, was heißt das, wenn wir es loben, preisen, hervorheben müssen?

Was heißt das, wenn wir diesen Einspruch als Zivilcourage verstehen? Was sagt das aus? Nicht über die Ausgezeichneten, sondern über die Gesellschaft, in der sie auffallen? Wie tief und machtvoll muss der Antisemitismus sein, wenn ihm nicht mit normalen Gesetzen, normaler Gesittung, normaler Kritik beizukommen ist – sondern mit Zivilcourage?

Antisemitismus lässt sich nicht relativieren durch Kontext, es gibt keinemildernden Bedingungen.

Zivilcourage meint bürgerlichen Mut, sie kann als Eigenschaft verstanden werden, die einer Person zukommt, als Tugend, der sich ein Individuum oder eine Gemeinschaft verpflichtet. Zivilcourage zeigt sich. Es gibt sie nicht im Verborgenen. Zivilcourage allein und klammheimlich zu Hause gibt es nicht. Das ist bloß Maulheldentum.

Zivilcourage ist immer ein Akt, der sich an andere richtet, denen widersprochen wird, ja, mehr noch, denen widersprochen wird, ganz gleich, was es kostet, ganz gleich, was jemand dafür riskiert. Wer zivilcouragiert handelt, lässt sich auf einen Konflikt ein.

Weil es Werte gibt, für die es immer jederzeit einzustehen gilt – nicht nur, wenn es bequem ist, nicht nur, wenn es dafür Applaus gibt, nicht nur, wenn die eigene Haut, der eigene Körper, der eigene »Stamm« bedroht wird, sondern wenn es anderen an den Kragen geht, wenn andere dämonisiert oder gedemütigt, wenn andere als kategorial Andere konstruiert und karikiert werden, wenn andere herabgesetzt und ausgesondert werden, und eben auch, wenn es riskant ist, wenn es dafür Anfeindungen gibt, wenn es Spott und Drohungen, Hass und Ablehnung gibt, auch, wenn es einsam um einen herum wird. […]

Bedingungen Antisemitismus lässt sich nicht relativieren durch Kontext, es gibt keine mildernden Bedingungen, er verletzt und stigmatisiert immer. Antisemitismus verfolgt und zitiert die ewig selben Bilder und Muster, reproduziert dieselben Ressentiments, manchmal verwoben mit anderen gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeiten, manchmal ganz autonom in seiner Widerlichkeit. Und dagegen braucht es Widerspruch, immer, nicht »nur« vom Zentralrat der Juden, nicht »nur« von Jüdinnen und Juden, sondern von allen in einer demokratischen Gesellschaft.

Wer glaubt, nicht betroffen zu sein, von Rassismus oder Antisemitismus, wer glaubt, unbeteiligt zu sein, hat sich der Reflexion auf die Geschichte schon verweigert und aus der gemeinsamen Humanität eines universalen Wir schon verabschiedet. […] »Wer selbst leidet, kann nicht mitleiden. Erbarmen ist das Monopol der Gesunden und der Luxus der Zuschauer«, schrieb der Philosoph Günther Anders in seinen Tagebüchern 1946 im Exil in den Vereinigten Staaten.

Die »Omas gegen Rechts« haben sich gegen das Zuschauen entschieden. Sie wollen nicht nur Erbarmen empfinden, sie wollen nicht nur mitleiden, sondern sie wollen verhindern, dass geschieht, was geschieht: dass rechtsradikale Bewegungen die Räume besetzen, dass neovölkische Dogmen die Diskurse durchziehen, dass revisionistische, antidemokratische Ambitionen normalisiert und bagatellisiert werden. Wer selbst leidet, dem verschlägt es oft die Sprache, wer selbst ausgesondert wird, wer selbst gedemütigt wird, der ist oft gelähmt vor Entsetzen, deswegen ist es so existenziell, dass es andere sind, die sich wehren, dass es andere sind, die sich schützend vor einen stellen, dass nicht nur reagiert, wer angegriffen ist, sondern eben andere. Dass dieser Einspruch von Großmüttern kommt, spielt eine außerordentliche Rolle.

Gegen Judenhass muss die ganze Gesellschaft aufstehen, nicht nur der Zentralrat der Juden.

Es ist von ungeheurer politischer Wucht, dass der Aufstand gegen rechtspopulistische und rechtsradikale Bewegungen auch von Menschen kommt, die nicht einfach als »volksferner Elfenbeinturm« oder als »linksradikale Antifa« etikettiert werden können. Die »Omas gegen Rechts« erschweren jenen Diskurs des Appeasement, der in Hass und Ressentiment immer nur bürgerliche Sorgen erkennen will, sie zeigen stattdessen, wie ernsthafte, demokratische Sorgen aussehen.

Was es so besonders und eben wirklich anders macht als bei anderen Generationen, die sich engagieren: Es sind Menschen mit langen Leben, die da auf die Welt schauen, es sind Menschen, für die Zeit eine knappe Ressource ist – das ist sie immer, aber Jüngeren oder Gesunden ist diese Einsicht nicht so in das Bewusstsein eingeschrieben –, es sind Menschen, die mit guten Gründen abwägen müssen, was sie mit ihrer Zeit noch tun wollen, was sie sich zumuten, was sie sich gönnen wollen, weil es schon bald damit vorbei sein könnte. Sich dann zu entscheiden, diese Zeit dem Engagement gegen Rechts zu widmen, sich dann zu entscheiden, diese Zeit für andere einzusetzen, für die, die sich nicht mehr trauen, die sich alleingelassen fühlen, sich dann zu entscheiden, sich den Anfechtungen und Verleumdungen auszusetzen – das verdient unser aller tiefsten Respekt und auch Dank. […]

Glück Immer, wenn ich auf einer Demonstration, ob in Berlin oder Dresden, eine Gruppe der »Omas gegen Rechts« sehe, rührt es mich. Das liegt auch daran, dass ich sie immer als heiter, ja, als wirklich vergnügt wahrnehme, als zeige sich darin das tiefe Glück, das denen zuteilwird, die sich solidarisch für andere verbinden.

Ich bin übrigens davon überzeugt, dass das etwas ist, das die beiden Preisträger:innen von 2020 und 2022 gemeinsam haben: nicht nur die Zivilcourage, nicht nur den Mut, sondern diesen wirklich gehörigen Spaß, den es ihnen macht, den rassistischen, homo- oder frauenfeindlichen, antisemitischen Gegenübern ihre humanistische Lebensfreude, ihren Witz, ihre Lust auf eine andere Gesellschaft entgegenzuhalten.

Und damit bin ich bei den Preisträgern vom Jahr 2022, dem Fußballverein Tennis Borussia Berlin. Wenn ich richtig informiert bin, dann war Paul Spiegel jetzt nicht gerade das, was man einen exquisiten Kenner des Fußballs oder einen Aficionado nennt, aber ich bin sicher, dass Paul Spiegel sich über diese Auszeichnung für Tennis Borussia gefreut hätte, ja, dass sie genau dem entspricht, was er unter einer Zivilgesellschaft, was er unter Mut verstanden hätte.

Ganz gleich, welchem Verein man sich sonst verbunden fühlen mag (Borussia Dortmund in meinem Fall): Jeder, der politisch halbwegs alle Latten am Zaun hat, muss auch TeBe-Fan sein. Denn dieser Verein und seine Fans zeigen, was möglich ist. In einer zunehmend kommerzialisierten und immer wieder von Antisemitismus, Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit durchzogenen Fan-Kultur leisten sie Widerstand.

Ritualisiert Das Attrappen-Engagement vieler anderer Vereine, die zwar bei allen symbolpolitischen Gesten und ritualisierten Bekenntnissen zu Respekt und Diversität dabei sind, wird durch TeBe als verlogen und substanzlos entlarvt. Denn TeBe zeigt, was alles dazugehört zu Respekt und Diversität, wenn sie denn ernst gemeint sein sollen. […] Dazu gehört auch, die eigene Geschichte in all ihrer Komplexität anzunehmen, sie wirklich anzunehmen, in all ihren Brüchen und mit all ihren Traumatisierungen, bei Tennis Borussia heißt das, sich auch der jüdischen Mitglieder zu erinnern, die den Verein nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verlassen mussten, es heißt, diese historisch erzwungene Leerstelle nicht einfach zuzudecken, nicht so zu tun, als habe es diese Zäsur nie gegeben, sondern die Erfahrung als Schmerz auch wachzuhalten.

TeBe zeigt, was dazugehört zu Respekt und Diversität, wenn sie ernst gemeint sein sollen.

Engagement gibt es nicht im Singular. Es erschöpft sich nicht in einer einmaligen Aktion. Engagement ist Arbeit, jeden Tag, Engagement gibt es nur im Plural, im steten, wiederkehrenden, sich in Worten, in Gesten, in Praktiken verändernden Einsatz.

Und so ist auch Zivilcourage selten ein einzelner Moment, kein Sprint, sondern Zivilcourage ist eine Langstrecke. […] Und so bleibt mir nur, Ihnen beiden zu gratulieren: den »Omas gegen Rechts« und »Tennis Borussia Berlin« zum Paul-Spiegel-Preis 2020 und 2022.

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