27. Januar

Erinnerung als Aufgabe

Die Vergangenheit nicht vergessen, in der Gegenwart leben, für die Zukunft hoffen ...» Der Ausspruch des Schoa-Überlebenden und langjährigen ZWST-Direktors Max Willner (1906–1994) dient als Motto der Wanderausstellung Führende Persönlichkeiten aus 100 Jahren Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Am Montagabend wurde die Ausstellung im Hessischen Landtag eröffnet. Zugleich fand dort eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus statt.

Unter den etwa 130 Gästen waren zahlreiche Landtagsabgeordnete und Staatsminister. Frankfurts Bürgermeister und Kämmerer Uwe Becker kam ebenso nach Wiesbaden wie Beni Bloch und Aron Schuster von der ZWST.
Zum Auftakt trug die Gitarristin Heike Matthiesen ein Musikstück aus Steven Spielbergs Film Schindlers Liste vor. Norbert Kartmann (CDU), Präsident des Hessischen Landtags, wies in seiner Begrüßungsrede auf die Bedeutung einer aktiven und lebendigen Gedenkkultur hin.

Zeitzeugen Der stellvertretende hessische Ministerpräsident Tarek Al-Wazir (Bündnis 90/Die Grünen) fragte: «Wie schaffen wir es, die junge Generation für unsere Geschichte zu sensibilisieren?» und erinnerte sich an Begegnungen mit Zeitzeugen als Jugendlicher. Seinen Kindern würden solche Begegnungen nicht mehr möglich sein, sagte Al-Wazir. «Und trotzdem ist es auch ihre Geschichte, weil das ihr Land ist.»

Jugendliche mit Migrationshintergrund hätten oft keinen Bezug zur deutschen Vergangenheit. Doch wer in Deutschland lebe, erbe auch die Geschichte des Landes, betonte der Grünen-Politiker. Daher seien Gedenkstätten und Stolpersteinverlegungen so bedeutend, da sie die «Geschichte vom Abstrakten ins Konkrete» holten. Die Welt und die Kommunikationswege hätten sich zwar verändert, «aber unsere Botschaft bleibt bestehen: ›Nie wieder!‹».

Gedenkfeier Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, mahnte anlässlich des Holocaust-Gedenktags, vor allem den Überlebenden Gehör und Aufmerksamkeit zu schenken: «Denn der 27. Januar ist ihr Tag.» Doch auch «die Erinnerung an die Millionen ihrer Leidensgenossen, die die Verbrechen nicht überlebt haben», sollte im Mittelpunkt stehen. Schuster wies darauf hin und bedauerte, dass bei der Gedenkfeier im Hessischen Landtag keine Zeitzeugen anwesend seien.

Gleichzeitig würdigte er die «beeindruckende Erinnerungskultur», die sich in Deutschland herausgebildet habe. Es gelte, «die Errungenschaften dieser Kultur zu bewahren und zugleich neue Wege zu beschreiten». Eine wichtige Voraussetzung dafür sei «ein profundes Wissen über den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Schoa». Hier komme Schulen und Gedenkstätten eine Schlüsselposition zu. Es sei wichtig, «das Judentum mit seiner ganzen Geschichte und Kultur zu zeigen, und Juden nicht nur als Opfer darzustellen».

In der Schule dürfe sich das Thema Judentum auf keinen Fall nur auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 beschränken, sagte Schuster. Eine hilfreiche Methode seien direkte Begegnungen wie es das Zentralratsprojekt «Likrat – Jugend und Dialog» biete. Jüdische Jugendliche gehen jeweils zu zweit in Schulklassen, um Fragen zum Judentum zu beantworten. Als dritten Baustein nannte Schuster die authentischen Orte der NS-Verbrechen. «Ich selbst plädiere seit Langem dafür, dass alle Schüler der höheren Klassen, und zwar unabhängig von der Schulart, einmal in ihrer Schulzeit eine KZ-Gedenkstätte besuchen sollten.» Das sei auch für Asylbewerber wichtig. Er sei überzeugt, dass dies einen Beitrag dazu leisten könne, den neu Angekommenen «unsere Sicht auf die Nazi-Vergangenheit und unsere Werte nahezubringen».

Generationen Die Erinnerungskultur müsse in der Migrationsgesellschaft und der Internet-Gesellschaft weiterentwickelt werden, betonte Schuster und verwies auf eine Rede, die der Schriftsteller Navid Kermani zum 20-jährigen Bestehen des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München gehalten hat. Kermanis These aufgreifend, «Auschwitz nicht nur als Menschheitsverbrechen, sondern als eigene Geschichte zu begreifen», sagte Schuster: «Das muss in Deutschland unser Ziel für die nachfolgenden Generationen bleiben, egal wo die familiären Wurzeln liegen.»

Durch soziale Netzwerke und Smartphones seien jüngere Menschen zudem «stärker als früher von visuellen Eindrücken geleitet». Daher brauche es eine andere Aufbereitung der Vergangenheit. «Auf diese Entwicklungen haben die Gedenkstätten längst reagiert». Als Beispiele nannte Schuster digitale und niedrigschwellige Angebote der KZ-Gedenkstätten Dachau und Auschwitz. Nicht zuletzt sollten Gedenkstätten mit den notwendigen finanziellen Mitteln ausgestattet werden.

Angesichts einer «Enthemmung im Internet» begrüßte Schuster das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Zudem seien zunehmende «Enthemmungen auf der Straße» zu beobachten. Mit Blick auf die Demonstrationen nach der Jerusalem-Entscheidung von US-Präsident Donald Trump mahnte Schuster, das Verbrennen von Flaggen unter Strafe zu stellen: «Hier existiert meines Erachtens eine Lücke im Versammlungsrecht, die dringend geschlossen werden sollte.»

Er beklagte überdies den israelbezogenen Antisemitismus, der bis in die Mitte der Gesellschaft reiche. Auch die Bedrohung durch Rechtsextremisten dürfe man nicht aus dem Auge verlieren. Er zitierte Alt-Bundespräsident Joachim Gauck: «Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.» An diesen Grundfesten rüttele die rechtspopulistische «Alternative für Deutschland».

«Die Vergangenheit nicht vergessen, in der Gegenwart leben, für die Zukunft hoffen ...» Max Willners Worte zogen sich durch die Beiträge aller Redner. Ganz im Sinne des jüdischen Gebots «Sachor – Erinnere dich!».

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