Im Jüdischen Museum in München gibt es in der Dauerausstellung einen Wandschrank, überquellend mit zerlesenen Büchern zur jüdischen Geschichte, Gedenkwimpel, Postkarten, alten Fotografien und Papieren aus dem Nachlass von Simon Snopkowski. Gestiftet hat diese an einen Reliquienschrein gemahnende Dauerleihgabe dem Museum seine Witwe Ilse Ruth.
Alles, was dieses Möbelstück beherbergt, hat der Schoa-Überlebende über Jahre zusammengetragen und gehütet – als hätten dem Sammler diese Erinnerungsstücke einen Verlust ausgleichen können, der mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen begann und sich im Sommer 1940 verschlimmerte, als die Familie Snopkowski aus ihrem Haus in das kurzerhand in seiner Heimatstadt Myszków geschaffene Ghetto umziehen musste.
Zielstrebig und diszipliniert
Wer den Lebenslauf des Arztes Simon Snopkowski liest, gewinnt den Eindruck eines sehr zielstrebigen und disziplinierten Menschen, der im Laufe seines Lebens viele Ämter bekleidete. Der größte Teil seines Lebens aber galt, wie er in seinen Memoiren schreibt, »dem Aufbau und der Konsolidierung jüdischen Lebens und jüdischer Tradition im Nachkriegsdeutschland«. Dabei hatte er es sich Anfang der 50er-Jahre nicht vorstellen können, »dass jüdisches Leben in diesem Land wieder möglich sein« würde.
Das Fundament zu seinem Lebensmotto, quasi Schlussformel seiner mit der Aussage »Zuversicht trotz allem« betitelten Erinnerungen, war sein Elternhaus. Der Vater Shlomo war Schneidermeister. Aus erster Ehe gab es vier Kinder: Chaim, Pinchas, Fela und als jüngstes Simon. Die Mutter Tauba starb ein Jahr nach seiner Geburt. In der zweiten Ehe des Vaters kamen die Geschwister Rosa und Benjamin hinzu, und die Stiefmutter Anna gab ihm Geborgenheit.
Das Elternhaus war traditionell, die Einhaltung der Gebote wichtig.
An sie zu denken, sollte Simon Snopkowski stets wichtig sein, weil am Ende nur er und sein ältester Bruder Chaim überlebt hatten. Das Elternhaus war traditionell, die Einhaltung der Gebote wichtig. Politisch war der Vater ein liberaler Sozialist, engagierte sich als Vorsitzender des jüdischen Handwerkerverbandes in Myszków, wo er für Notleidende einen Hilfs- und Solidaritätsfonds gründete.
Nach der Pogromnacht im November 1938, der die Ausweisung polnischstämmiger Juden aus Deutschland vorausgegangen war, nahm die Familie heimatlos Gewordene und um ihr gesamtes Hab und Gut Betrogene bei sich auf.
Pauken für die Aufnahmeprüfung und ein Stipendium am jüdischen Gymnasium
Ein Beispiel für die Zielstrebigkeit des zehnjährigen Simon war 1935 sein Pauken für die Aufnahmeprüfung und ein Stipendium am jüdischen Gymnasium im 30 Kilometer südöstlich gelegenen Częstochowa, weil er doch später einmal Arzt werden wollte. Sein Vater hatte ihm abgeraten, mit Blick auf den damals an polnischen Universitäten wütenden Antisemitismus. Ein anderes Beispiel für seinen Wagemut, man könnte auch sagen, seine Sturheit, waren seine geheimen Kurierdienste, an die er durch sein Engagement im zionistischen Hashomer Hatzair kam.
Am 22. Juni 1942, einen Tag vor seinem 17. Geburtstag, wurde er erwischt und ins Lager Ottmuth verbracht. Statt fürs Abitur zu lernen, stand nun zwölfstündige Zwangsarbeit auf dem Tagesplan. Weiter ging es in das Lager Masselwitz bei Breslau, dann nach Dyhernfurth und Langenbielau, Außenlager von Groß-Rosen. Erst nach der Befreiung erfuhr er, dass sein Vater und sein zweitältester Bruder Pinchas im März 1943 hingerichtet und die Stiefmutter mit Fela und Rosa sowie dem Jüngsten, Benjamin, in Auschwitz ermordet worden waren.
Da ihn nichts mehr in Polen hielt, machte er sich auf Richtung Westen in die amerikanische Zone und landete schon 1945 im DP-Lager Landsberg. Wieder ging es ans Büffeln. Denn ohne Abitur vor einer Prüfungskommission des »Zentralkomitees der Befreiten Juden« 1947 war eine Immatrikulation für das kürzere Studium der Zahnmedizin (1950 abgeschlossen) sowie für Humanmedizin (1955 beendet) in München nicht möglich. Es gab schon einen jüdischen Studentenverband, der schnell zum Treffpunkt und Familienersatz wurde und dessen Vorsitz Snopkowski von 1951 bis zu dessen Auflösung 1954 innehatte.
Statt nach Israel oder Amerika zu gehen, bewarb sich Simon Snopkowski für eine Facharztausbildung in der Chirurgie des Städtischen Krankenhauses »Rechts der Isar«. Von 1966 bis 1984 wirkte er als Chirurgischer Chefarzt im Krankenhaus Oberföhring und wechselte 1984 ans neue Klinikum Bogenhausen, dessen Direktor er bis zur Pensionierung 1987 war.
Familie und Ehrenamt
Doch auch im familiären und ehrenamtlichen Bereich tat sich einiges. Eines Tages, genauer gesagt während einer Nachtschicht im »Rechts der Isar«, lernte er eine Frau kennen, die sich beim Skifahren das Bein gebrochen hatte. Aus Simon und Ilse Ruth wurde ein Ehepaar, 1962 kam Sohn Peter, 1964 Tochter Jona zur Welt. Beide sind in die Fußstapfen des Vaters getreten und ebenfalls Mediziner geworden.
Nach der Studienzeit engagierte sich Snopkowski im Gemeindeleben, von 1959 bis 1971 im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde, von 1960 bis 1971 als Vizepräsident und von 1971 bis zum Lebensende als Präsident des Landesverbandes Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern. Seine bestimmende Art, die Belange der größten Gemeinde in Bayern, nämlich München, denen der Kleingemeinden gleichzusetzen, führte dazu, dass die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, den Auszug aus dem Landesverband vollzog.
Beim Abschluss des Staatsvertrags, der 1997 zwischen dem Freistaat Bayern und den jüdischen Gemeinden in diesem Bundesland zustande kam, wirkten die IKG-Präsidentin und der Landesverbandspräsident jedoch zusammen zum Wohle der jüdischen Gemeinschaft, die zwischen 1990 und 2005 dank der Zuwanderung aus den GUS-Staaten einen Mitgliederzuwachs verzeichnete.
Von 1960 bis 1970 war Snopkowski ferner Mitglied im Verwaltungsrat des Zentralrats der Juden in Deutschland und von 1960 bis 1990 im Vorstand der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Er kannte – wie man sagt – Gott und die Welt, konnte mit Papst Johannes Paul II. Polnisch parlieren, empfing Erich Honecker 1987 in der Gedenkstätte Dachau, sprach mit dem Pariser Kardinal Jean-Marie Lustiger und mit Michael Gorbatschow.
Ausstellungen und Konzertreihen, jiddische Unterhaltungsabende und Vorträge
Aus dem Ostjudentum stammend und mit dessen Kultur seit Kindheit vertraut, wollte Simon Snopkowski den Graben überbrücken, den die NS-Zeit aufgerissen hatte. Mithilfe des Freistaates Bayern bekam er zwar nicht den Traum einer Jüdischen Akademie erfüllt, doch im Juli 1982 gab es grünes Licht, sprich Zuschüsse, für die »Gesellschaft zur Förderung Jüdischer Kultur und Tradition«, die seitdem alljährlich an sehr verschiedenen Orten, angefangen beim Rathaus über den Gasteig bis hin zum Künstlerhaus oder dem Hauptstaatsarchiv, Ausstellungen und Konzertreihen, jiddische Unterhaltungsabende und Vorträge präsentiert.
Simon Snopkowski versuchte, den Dingen immer wieder auf den Grund zu gehen.
Daneben fand er noch Zeit für weitere Ämter, ab 1975 als Mitglied des Bayerischen Senats, und später noch einmal von 1996 bis 1999 bis zur Schließung dieser zweiten Kammer des Bayerischen Parlaments. Von 1981 bis 1986 gehörte er dem Vorstand der Deutschen Krankenhausgesellschaft an und saß ab 1990 als jüdischer Repräsentant im Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks.
Bei den Aktivitäten der Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur war vom Gründungszeitpunkt 1981 an Ehefrau Ilse Ruth dabei. Ihr Engagement im Hintergrund führte 1987 zum Konzept jährlicher Jüdischer Kulturtage, welche die Witwe nach dem Tod von Simon Snopkowski am 2. Dezember 2001 bis 2016 erfolgreich weiterführte. So wie sie in den Ehejahren ihrem Mann den Rücken frei gehalten hatte, pflegte sie nun sein Vermächtnis.
Auslobung des Simon-Snopkowski-Preises
Dazu gehörte auch die Auslobung des Simon-Snopkowski-Preises, der von 2006 bis 2018 alle zwei Jahre zur »Förderung der forschenden Jugend« im Bereich »Jüdische Kultur in Bayern und dem Holocaust« diente und damit gezielt Schulen für den Wettbewerb animierte. Das hätte dem Namensgeber sicher gefallen.
Nach eigenem Bekunden war Schwärmerei nicht seine Sache, er versuchte den Dingen auf den Grund zu gehen, und zwar »oft im Widerspruch zu vorherrschenden Meinungen und Trends; mit einem Zeitgeist, der die Menschen ahnungslos vor sich hertreibt, kann ich mich nicht anfreunden«. Das klingt wie eine prophetische Mahnung an die Gegenwart.