Es kam aus tiefstem Herzen: das spontane Gebet auf dem sogenannten Platz der Geiseln vor dem Kunstmuseum im Zentrum von Tel Aviv. Die elf orthodoxen Rabbiner aus Deutschland stehen im Halbkreis, beten und singen, schließen ihre Augen, zutiefst berührt vom Schicksal der 240 Geiseln, die die Terrororganisation Hamas seit dem 7. Oktober im Gazastreifen gefangen hält und von denen nun 50 in den kommenden Tagen freigelassen werden könnten.
»Wir wollten unser Mitgefühl zeigen und unsere Hoffnung mitbringen«, sagt Rabbiner Avichai Apel, Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD), noch immer bewegt vom gemeinsamen Gebet. Wobei das an dieser Stelle weniger ein religiöser als ein sozialer Akt gewesen sei, wie er erklärt. Tatsächlich schlossen sich den Rabbinern spontan Israelis an, um mit ihnen gemeinsam zu beten und die Hatikwa zu singen, die Nationalhymne des Landes.
LEID Die viertägige Reise nach Israel sei ganz und gar ein »Solidaritätsbesuch«, um dem gesamten Volk die Verbundenheit der Rabbiner und ihrer Gemeinden zu demonstrieren. In den jüdischen Gemeinden Deutschlands gebe es eine »unvergleichliche Solidaritätswelle« und sie als geistliche Führungskräfte wollten dies in Israel kundtun.
»Nur wenn man Leid kennt und Mitleid empfindet, kann man auch Freude genießen«, betont Rabbiner Apel. »Was ist die Freude wert, wenn wir das Leid nicht kennen?« An einem Informationstisch vor dem Museum lassen sich die Gäste über das Schicksal der von der Hamas entführten Männer, Frauen und Kinder aufklären. »Doch auch unsere Hände sind gebunden, wir können nichts Konkretes für die Geiseln tun, außer unser Mitgefühl zu zeigen«, so Apel.
Die Rabbiner hören zu und drücken immer wieder ihre Verbundenheit aus.
»Doch genau das ist unschätzbar wertvoll«, meint Carmel Abend, die hinter dem Tisch steht, auf dem Plakate mit den Porträts der Geiseln, Aufkleber und Anstecker ausgelegt sind. Sie trägt ein T-Shirt mit dem Foto ihrer Familienmitglieder, daneben der Slogan in vier Sprachen: »Lasst sie frei!« Abend ist die Cousine der entführten Raz Ben Ami aus dem Kibbuz Be’eri, die gemeinsam mit ihrem Mann Ohad gekidnappt wurde. Die Rabbiner hören zu und drücken immer wieder ihre tiefe Verbundenheit mit den Angehörigen und Geiseln aus.
»Das Gespräch war wundervoll«, sagt Abend im Anschluss. »Sie erkundigten sich nach den Entführten und unserem Kibbuz. Es ist so wichtig für uns, dass das Schicksal der Geiseln von den Menschen in aller Welt gesehen und nicht vergessen wird.« Dass sich eine ganze Delegation von Rabbinern aus Deutschland extra auf den Weg macht, um ihre Solidarität zu zeigen, macht großen Eindruck auf sie. »Das ist alles andere als selbstverständlich.«
Für die Israelin, deren Vater aus Düsseldorf stammt, ist die Anteilnahme aus Deutschland besonders wichtig. »Die Rabbiner versicherten uns, dass sie ständig für die Geiseln beten würden und mit uns in dieser Zeit mitfühlen.« Sie hätten viel Anteilnahme gezeigt und »uns auch Mut damit gemacht, dass sie die Stärke unseres Volkes betonten. Doch sie sagten auch, dass sich die tragische Geschichte leider wiederholt«.
BEMÜHUNGEN Ihrer Meinung nach unternehme auch die deutsche Regierung große Anstrengungen, um die Geiseln zu befreien. »All das gibt uns Hoffnung. Und die brauchen wir, denn oft ist es sehr schwer, die Hoffnung aufrechtzuerhalten.«
Am Stand daneben werden gelbe Bänder verteilt. Darauf steht: »7. Oktober 2023. Bring them home now.« Gelb ist in diesen Tagen für Israel die Farbe der Hoffnung. Ein Rabbiner nach dem anderen lässt sich das gelbe Band ums Handgelenk binden.
Wenige Stunden zuvor hatten die Mitglieder der Delegation das unvorstellbare Ausmaß des Leids mit eigenen Augen gesehen. In der Identifizierungsstelle der Toten, dem Machane Schura, wollte die Gruppe ebenfalls ihre Unterstützung zum Ausdruck bringen und den Medizinern, Mitgliedern des Rabbinats, den Soldatinnen, Soldaten und Reservisten danken. »Doch sie dankten uns, dass wir gekommen sind, und ließen uns wissen, wie wichtig es ihnen sei«, so Apel. »Letztendlich sind wir alle dasselbe: Menschen!«
Gelb ist in diesen Tagen in Israel die Farbe der Hoffnung.
»Wie kann es sein, dass so etwas in 2023 passiert, diese grenzenlose Unmenschlichkeit?«, fragt er einen Moment später, und Verzweiflung schwingt in seiner Stimme mit. »Jetzt ist es in Israel geschehen – doch es kann überall auf der Welt passieren. Wir wollen das nicht und rufen deshalb dazu auf, dass die gesamte Menschheit aufsteht.« Damit spricht der Rabbiner auch den expandierenden Antisemitismus an.
»Etwas, das uns Juden oft fehlt«, meint er, »ist das Farbebekennen von anderen«. Wenn jemand zehn Freunde habe, schweigen acht von ihnen. »Und das zerstört unser Vertrauen. Nicht, weil wir es wollen, sondern zwangsweise.« Und ja, dies sei ein eindeutiger Aufruf zur Zivilcourage, macht er klar. »Die Antisemiten trauen sich mehr, dann müssen sich auch alle, die anders denken, mehr trauen.«
Am selben Abend fahren die Rabbiner weiter nach Jerusalem zu der Schiwa des Soldaten Shachar Fridman, der am Samstag im Krieg in Gaza gefallen ist. Tragischerweise hatte der 21-Jährige wenige Tage vor seinem Tod ein Interview gegeben und gesagt, er sei »bereit, für sein Land zu sterben«. Der Journalist Lior Ben Ami schrieb daraufhin über ihn: »Er hatte das Gefühl, als seien die Menschen zu einer eisernen Faust vereint. Nicht weniger. ›Zeigen Sie mir heute einen, der es wagen würde, jemand anderen auf der Straße anzuhupen‹, sagte er mir.«
GEBETE Ben Ami habe es nicht übers Herz gebracht, ihm zu sagen, dass es wahr sei. »Wir sind nicht mehr dieselben Menschen wie vorher. Wir sind uns viel mehr einig, und ja, es ist bewegend, aber immer noch nicht genug. Zumindest nicht so sehr, wie er es sich vorstellte«, schreibt er und bittet: »Lasst uns für den Fallschirmjäger Shachar Fridman die Menschen sein, für die er gestorben ist.«
»Wir beten für ganz Israel«, resümiert Rabbiner Avichai Apel. »Aber besonders für die Soldatinnen und Soldaten, die das Land beschützen und für das Land kämpfen.«