Berlin

Eine Frage der Biografie

Auf dem Podium: Richard C. Schneider, Aron Schuster und Deborah Feldman (v.l.) Foto: Uwe Steinert

Zwei Generationen, zwei grundverschiedene Perspektiven – auf diese Formel ließe sich die Diskussion zwischen dem ARD Korrespondenten Richard C. Schneider und der Bestsellerautorin Deborah Feldman bringen, die am Mittwoch zum Thema »Antisemitismus in Deutschland und Europa« bei der Heinrich Boell-Stiftung in Berlin stattfand. Geladen hatten Helga Trüpel, EU-Parlamentarierin der Grünen, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) sowie das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES).

Während Schneider 1957 in München als Sohn ungarischer Schoa-Überlebender auf die Welt kam und viele Jahre für das deutsche Fernsehen aus Israel berichtete, ist Feldman Jahrgang 1986 und wuchs sprichwörtlich in einer Bubble auf, und zwar der chassidischen Satmar-Gemeinde in New York. Von genau dieser hatte sie sich 2009 losgesagt und ihre biografischen Erfahrungen 2012 in dem erfolgreichen Buch Unorthodox veröffentlicht. 2014 zog sie mit ihrem Sohn nach Berlin.

heimat »Ja, Berlin ist meine Heimat«, antwortete Feldman dann auch auf die Frage von Aron Schuster, dem Moderator der Diskussion und Direktor der ZWST, was dieser Begriff für beide überhaupt bedeute. »Ich vermag mir keinen anderen Ort vorzustellen, also muss es wohl Berlin sein.« Bei Schneider klang das alles ganz anders. »Allein schon deshalb, weil es für Juden in München keine Normalität gab.« Die jüdische Gemeinde der Stadt bestand überwiegend aus in Deutschland gestrandeten Displaced Persons. »Wenn wir aus der Synagoge kamen, wurden wir angestarrt wie exotische Tiere.« In Israel, wo er mittlerweile lebt, sei sein Jüdischsein absolut kein Thema.

Feldman scheint dagegen mit Israel ein wenig zu fremdeln. »Von Juden umgeben zu sein, ruft bei mir als Aussteigerin aus der Orthodoxie ein Gefühl des Begrenztwerdens hervor. Mein Sohn dagegen benahm sich in den zwei Wochen, die ich einmal dort war, auffällig unbeschwert.« Für sie sei das Land deshalb keine Alternative. Auch hierzulande habe sie wenig Kontakte zu jüdischen Gemeinden. »Ich suchte gezielt die Anonymität.« Schneiders Sicht auf Israel ist ebenfalls biografisch geprägt und basiert auf seinen Erfahrungen in Europa – »die Freiheit, nicht mehr von anderen als Jude gesehen zu werden«.

verschwörungstheorien Bemerkenswert unterschiedlich ist auch die Wahrnehmung beim Thema Antisemitismus. »Wer sich in Deutschland judenfeindlich verhält, macht das sehr bewusst«, glaubt Feldman. »Wenn ein Antisemit dann mal auf eine jüdische Person trifft, scheint er geradezu glücklich und erlöst zu sein, endlich mal seine ganzen Verschwörungstheorien an jemandem abarbeiten zu können.« Und als ihr einmal bei einem Umzug in Berlin der muslimische Speditionsmitarbeiter mit voller Absicht ein wertvolles Bild mit einem jüdischen Motiv zerstört hatte, ging sie vor Gericht, wo man ihr recht gab und eine Entschädigung zusprach. Damit war der Fall für die Autorin erledigt.

Der Antisemitismus ist für Schneider aber alles andere als erledigt. Seiner Einschätzung nach besteht das Problem keinesfalls darin, dass nicht darüber gesprochen wird, sondern dass den Reden und Appellen kaum konkrete Handlungen folgen. Deshalb sieht er für die jüdischen Gemeinschaften in Europa langfristig keine Zukunft mehr. Auch die Zuwanderung von rund einer Million Menschen aus Ländern, in denen der Judenhass Staatsdoktrin ist, sieht er kritisch. »Nicht weil ich ihre Aufnahme ablehnen würde – ganz im Gegenteil! Moralisch war es völlig richtig. Aber es wurde kaum etwas unternommen, um zu vermitteln, dass Antisemitismus hier nicht willkommen ist.«

Feldman ihrerseits machte den jüdischen Organisationen den Vorwurf, dass sie sich bei dem Thema Zuwanderung offener hätten zeigen sollen. Genau das zeugte von einer gewissen Unkenntnis der Verhältnisse und Kontexte in Deutschland. Oder wie die Diskussion zeigte: Es scheint alles eine Frage der Biografie zu sein.

 

Teilnehmer des Mitzvah Day 2016 in Berlin

Tikkun Olam

»Ein Licht für die Welt«

Der Mitzvah Day 2025 brachte bundesweit Gemeinden, Gruppen und Freiwillige zu mehr als 150 Projekten zusammen

 23.11.2025

München

Nicht zu überhören

Klare Botschaften und eindrucksvolle Musik: Die 39. Jüdischen Kulturtage sind eröffnet

von Esther Martel  23.11.2025

Berlin

Gegen den Strom

Wie der Ruderklub »Welle-Poseidon« in der NS-Zeit Widerstand leistete und bis heute Verbindung zu Nachfahren seiner jüdischen Mitglieder pflegt

von Alicia Rust  23.11.2025

Porträt

Glücklich über die Befreiung

Yael Front ist Dirigentin, Sängerin, Komponistin und engagierte sich für die Geiseln

von Alicia Rust  22.11.2025

Berufung

Schau mal, wer da hämmert

Sie reparieren, organisieren, helfen – und hören zu: Hausmeister von Gemeinden erzählen, warum ihre Arbeit als »gute Seelen« weit mehr ist als ein Job

von Christine Schmitt  21.11.2025

Mitzvah Day

Im Handumdrehen

Schon vor dem eigentlichen Tag der guten Taten halfen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentralrats bei der Berliner Tafel, Lebensmittel zu prüfen

von Sören Kittel  20.11.2025

Interview

»Selbst vielen Juden ist unsere Kultur unbekannt«

Ihre Familien kommen aus Marokko, Libyen, Irak und Aserbaidschan. Was beschäftigt Misrachim in Deutschland? Ein Gespräch über vergessene Vertreibungsgeschichten, sefardische Synagogen und orientalische Gewürze

von Joshua Schultheis, Mascha Malburg  20.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

Berlin

450 Einsatzkräfte schützen jüdische Einrichtungen

Zudem seien im laufenden Jahr zwei Millionen Euro in bauliche Sicherheitsleistungen für jüdische Einrichtungen investiert worden sowie 1,5 Millionen Euro in mobile Sicherheitsleistungen für jüdische Gemeindeeinrichtungen

 19.11.2025