Selbstverständnis

Ein Stück Heimat

Auch eine funktionierende Infrastruktur zeichnet eine Gemeinde aus: Sonntagsschule in der Jüdischen Gemeinde Duisburg Foto: Alexandra Roth

Wenn sich drei Juden zusammensetzen – sind sie dann schon eine Gemeinde? Was macht sie aus und welche Bedeutung hat sie? »Drei Juden sind per se schon einmal zu wenig«, sagt Michael Szentei-Heise, Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Seine Begründung: »Eine Gemeinde ist für die kulturellen, sozialen und religiösen Belange ihrer Mitglieder verantwortlich. Für letzteren Aspekt müssen es zur Gemeindegründung mindestens zehn religionsmündige Männer, ein Minjan, sein. Schließlich ist nur so sichergestellt, dass ein Gottesdienst stattfinden kann.«

Allerdings reichen auch die zehn männlichen Juden nicht aus, denn die Aufgaben einer Gemeinde sind vielfältig. »Sie ist ein Gesamtkonzept von der Wiege bis zur Bahre«, präzisiert Szentei-Heise. Große Gemeinden wie Düsseldorf – mit rund 7.500 Mitgliedern drittgrößte Gemeinde in Deutschland – bieten auch die entsprechende Infrastruktur: von der Brit Mila bis zur Beerdigung. Dazu zählen ein Kindergarten, die Yitzhak-Rabin-Grundschule, die Religionsschule, das Jugendzentrum, der Sportverein Makkabi, der Altenclub und das Altenwohnheim. Eine zentrale Rolle spielt auch die Sozialabteilung, die Menschen in allen Lebenslagen hilft.

Infrastruktur Auch andere große Gemeinden wie Frankfurt bieten eine solche Infrastruktur. Und die Mitglieder wissen es zu schätzen: »Meine Kinder haben in der Gemeinde Freunde gefunden, genießen die jüdische Ausbildung und das Jugendzentrum – und wir alle das Kulturangebot«, formuliert es die Frankfurterin Olga Luk.

Zudem gebe ihr die Gemeinde ein Stück Sicherheit: »Ich weiß, falls ich Hilfe brauche, bekomme ich dort Unterstützung. Immer hat jemand ein offenes Ohr für meine Fragen und oft auch hilfreiche Antworten, die mir die Möglichkeiten und Richtungen zeigen, die ich alleine nicht gefunden hätte.«

Koordiniert und organisiert wird die gesamte Infrastruktur einer Gemeinde von ihrer Verwaltung, dem Gemeinderat und dessen Vorstand. Die Gemeindeversammlung kann die Entscheidungen des Gemeinderats mitgestalten. Doch auch, wenn eine Gemeinde eine gewisse Infrastruktur aufgebaut hat, gilt es noch zwei Hürden zu nehmen. Zunächst muss sie vom Landesverband der jüdischen Gemeinden anerkannt werden. Erst dann kann sie auch finanziell unterstützt werden, beziehungsweise erhält anteilig Mittel aus dem jeweiligen Staatsvertrag, den die Landesregierungen mit den Landesverbänden ausgehandelt haben.

Prominentes Beispiel ist die Vereinigung »Perusch« in Oberhausen. Sie will als Gemeinde anerkannt werden – wird es bislang aber nicht. Eine Lösung des Streits, der schon seit einiger Zeit währt, ist jetzt in Sicht: »Wir sind in Nordrhein-Westfalen gerade dabei, Kriterien zu entwickeln, die definieren, wann eine jüdische Gemeinde eine solche ist«, sagt Szentei-Heise. Beauftragt mit dem Kriterien-Entwurf ist der Professor für Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Georg-August-Universität Göttingen, Hans Michael Heinig.

Steuer Ist eine Gemeinde vom Landesverband anerkannt, kann sie auch den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts beantragen. Für die Jüdische Gemeinde Frankfurt hat diesen das Hessische Kultusministerium im Jahr 1949 erteilt. Seitdem ist die Gemeinde befugt, die Kultussteuer ihrer Mitglieder zu erheben. Ein Obolus, bei den Christen heißt er Kirchensteuer, der den ein oder anderen vors Amtsgericht treibt, um dort den »Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft«, wie es offiziell heißt, zu beantragen.

»Ich habe sowieso nichts mit der Gemeinde zu tun«, sagt ein Enddreißiger, der diesen Schritt gegangen ist und das Judentum in seinem Alltag ohnehin nicht vermisst. Sollten seine Kinder ihn allerdings einmal auf dem jüdischen Friedhof begraben lassen wollen, wird’s teuer. »Wir überschlagen, wie viel Steuer uns seit dem Austritt entgangen sein könnte. Und wenn die Nachkommen das nachzahlen, beerdigen wir auch«, sagt Szentei-Heise.

Der Mittdreißiger ist der Gemeinde in der »kritischen Lebensphase« abhanden gekommen: »In der Phase zwischen Abitur und Heirat kehren viele der Gemeinde den Rücken«, weiß der Verwaltungsdirektor. Olga Luk hat das nicht getan. »Zum Glück«, sagt sie lachend, »denn ich habe hier meinen Mann kennengelernt!«

Auch die Studentin Polina Primak gehört zu den treuen Mitgliedern. Weil sie sich »eingebunden« fühlt. »Immer, wenn ich zu einer Veranstaltung oder an den Feiertagen in der Gemeinde war, wird mir bewusst, wie wohl ich mich hier fühle. Sie bedeutet für mich Zugehörigkeit zu einem Umfeld, in dem ich mich sicher und angenommen fühle.«

Mitgliederschwund Nicht mangelnde Atmosphäre, sondern der Mitgliederschwund bereitet dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Dessau, Alexander Wassermann, Sorgen. Viele junge Mitglieder verlassen die Stadt, weil die Arbeitslosenquote bei rund 20 Prozent liegt und sie keinen Job finden. 173 der rund 400 Dessauer Juden sind außerdem älter als 71 Jahre, und sie wohnen über sechs Städte verteilt. Am Schabbat und den Feiertagen übernimmt die Gemeinde die Fahrtkosten zur Synagoge. »Wir tun alles für unseren Erhalt«, sagt Wassermann.

Den Wert einer Gemeinde, ob groß oder klein, könne man nicht hoch genug einschätzen, weiß der 67-Jährige. »Wir haben 42 Holocaust-Überlebende unter uns. Sie treffen sich regelmäßig; auch zu Gesprächen mit dem Wohlfahrtsverband. Und auch für die anderen älteren Mitglieder – bis auf einen stammen alle aus der ehemaligen Sowjetunion – sei die Gemeinde von großer Bedeutung. »Sie sprechen meist nur Russisch. Deshalb ist es für sie wichtig, hier einen Treffpunkt zu haben.« Ein Stück alte Heimat in der neuen Heimat.

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