Porträt der Woche

Ein Leben mit Büchern

»Das Schicksal meines Vaters war für mich ein Grund, mich zu engagieren«: Tanja Korsunska (63) Foto: Chris Hartung

Porträt der Woche

Ein Leben mit Büchern

Tanja Korsunska aus Hannover liest, schreibt und organisiert Literaturfestivals

von Chris Meyer  20.10.2024 06:59 Uhr

Spätestens am Abend hatte ich das Buch durchgelesen, das ich erst am Nachmittag aus der Bibliothek mit nach Hause nehmen konnte. Ich war damals noch ein Kind und musste – wie jedes jüdische Mädchen – eine Musikschule besuchen. Viermal die Woche hatte ich Klavierunterricht, zusätzlich sang ich noch im Chor.

Die Musikschule war in einem Freizeitzentrum untergebracht, in der auch die Bibliothek ihre Räume hatte. Wahrscheinlich habe ich damals alle vorhandenen Kinderbücher in meinen Händen gehalten. Hatte ich eines durchgelesen, las ich es wieder und wieder – bis ich ein neues ausleihen konnte. Seither begleitet mich die Liebe zur Literatur.

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Als wir in den späten 90er-Jahren nach Deutschland zogen, fing ich an, Gedichte zu schreiben, traute mich aber nicht, sie jemandem zu zeigen. Sie blieben mein Geheimnis. Mittlerweile bin ich mutiger geworden und habe meine Gedichte, die ich in Russisch verfasst habe, veröffentlicht. Und jetzt ist auch mein Buch über das Leben meines Vaters, Aaron Israel Bronstein, herausgekommen – ebenfalls auf Russisch.

Als wir in den späten 90er-Jahren nach Deutschland zogen, fing ich an, Gedichte zu schreiben

Das Schicksal meines Vaters war für mich der Hauptgrund, weshalb ich im Frühjahr 2022 in Hannover als Volontärin am Bahnhof stand, um den Menschen zu helfen, die vor Putins Angriffskrieg geflohen waren. Seine Geschichte spiegelt das Leben einer jüdischen Familie in der Ukraine wider. Auch möchte ich auf diesem Weg etwas zurückgeben, denn mein Vater konnte die Nazizeit nur dank der Hilfe anderer überleben. Sieben seiner Helfer sind mittlerweile in Yad Vashem geehrt worden.

Als Kind wusste ich nichts über das Schicksal meiner Familie väterlicherseits. Oder woher die Schussnarbe auf der linken Gesichtshälfte meines Vaters stammte. In seiner Geburtsstadt Winnyzja gab es während der Schoa Massenerschießungen. Mehr als 23.000 Juden wurden ermordet. Darunter auch seine Eltern und beide Schwestern. Er war zehn Jahre alt, als die Nazis in Winnyzja einmarschierten – er konnte vor ihnen weglaufen. Obwohl er so jung war, gelang es ihm mehrmals, den Erschießungen zu entkommen, einige Male haben ihm sogar unbekannte deutsche Soldaten etwas geholfen, indem sie weggesehen haben oder sein Versteck nicht auffliegen ließen.

Sein Vater war Kantor. Auch mein Vater konnte wunderschön singen und kannte viele deutsche Lieder. Manchmal sang er sie den deutschen Soldaten vor und erhielt dafür etwas Essen von ihnen. Er war obdachlos, bis er eines Tages auf einem Feld von einem ukrainischen Polizeigehilfen entdeckt wurde. Der schoss auf ihn. Eine Kugel traf sein Gesicht, woraufhin er viel Blut verlor und ohnmächtig wurde. Die Bauern, die ihn auf dem Feld fanden, wickelten ihn in eine Decke und brachten ihn in ein kleines Dorf, wo ein Sanitäter ihn versorgte. Dass der Junge Jude war, spielte für ihn keine Rolle. Später brachte er meinen Vater in ein Krankenhaus, wo er operiert wurde und neun Monate bleiben konnte. Wenn die deutschen Soldaten das Krankenhaus durchsuchten, musste er sich im Kleiderschrank oder in einem Brunnen verstecken.

1960 heirateten meine Eltern. Ich bin bei meinen Großeltern mütterlicherseits groß geworden

Er beschloss, sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Schließlich wurde er entdeckt und im Herbst 1943 in ein Kinderheim gebracht. Im März 1944 kam die Rote Armee. Das Personal war geflohen, die Kinder waren zurückgeblieben, hatten Hunger und sammelten nun die Felder ab. Mein Vater hatte noch die Hoffnung, eine seiner Schwestern wiederzufinden. Doch die Hoffnung erfüllte sich nicht. Eine hieß Tanja – und später gab er diesen Namen mir. Schließlich besuchte er die Schule, studierte und wurde stellvertretender Leiter eines Baubetriebs. Mehr konnten Juden damals in der Ukraine nicht werden.

1960 heirateten meine Eltern. Ich bin bei meinen Großeltern mütterlicherseits groß geworden. Meine Oma, Chaya Lichterova, war in einem ukrainischen Schtetl aufgewachsen. Wegen der Pogrome und Hunger­katastrophen zog die Familie in die Stadt Dnepropetrovsk. Kurz vor dem Krieg heiratete sie meinen Großvater Chaim. Dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Nicht nur männliche Mitglieder der großen Familie, sondern auch die jüngere Schwester meiner Oma wurden in die Rote Armee eingezogen.

Auf der Flucht irgendwo in den Weiten der Kaspischen Steppe versprach ihr Opa, der als Soldat im Ersten Weltkrieg gedient hatte, dem Rest seiner Familie, mit dem Rauchen aufzuhören, wenn alle seine Kinder heil wiederkämen. Er hatte das Glück, sein Versprechen einlösen zu können, und zündete sich nach dem Krieg nie wieder eine Zigarette an. Der Rest der Familie wurde während dieser Zeit in den Kaukasus und anschließend ans Kaspische Meer evakuiert, wo meine Oma als Melkerin in einer Kolchose arbeitete. Dort erkrankte meine Mutter als Vierjährige an Malaria. Daraufhin verkaufte meine Oma ihr letztes Kleid, um mit dem Erlös einen Eimer Äpfel zu kaufen. Mutter überstand ihre Krankheit.

Mein Großvater kämpfte als einfacher Soldat, als Sanitäter, als Artilleriekutscher und Schmied in der Roten Armee im Krieg und überlebte nicht nur Stalingrad, sondern schaffte es auch von dort aus mit der Roten Armee bis nach Berlin. Aber er verlor viele Angehörige bei dem Pogrom von Klimawitschy.

Mit dem Familiennamen hätte ich eh keine Chance, an der Uni aufgenommen zu werden

Inzwischen ist Hannover mein Zuhause geworden, auch wenn die Stadt mir vor 25 Jahren bei Weitem nicht so schön erschien wie Dnepropetrovsk. Damals hatte ich den Mut gefunden, ein neues Leben anzufangen. Mein Wunsch war, dass unsere Kinder frei und in einer Demokratie aufwachsen. Nicht so wie ich, denn meine Kindheit war alles andere als einfach.

Am Anfang des neuen Schuljahres wurden alle Schüler aufgerufen und mussten aufstehen. Bei mir prangte ein »J« im Klassenbuch – und wenn ich die Namen meiner Familie aufsagen sollte, musste ich auch den Namen meines Vaters erwähnen. Es war eine schambehaftete Katastrophe für mich. Obwohl ich Klassenbeste war und Mathematik-Wettbewerbe gewann, riet die Lehrerin meinen Eltern davon ab, mich in die Oberstufe zu schicken. Mit dem Familiennamen hätte ich eh keine Chance, an der Uni aufgenommen zu werden. So absolvierte ich meine Ausbildung an einer Berufsschule und bekam dann doch die Chance, an einer Fachhochschule zu studieren, die ich als Systemingenieurin abschloss. Später arbeitete ich in einem Rechenzentrum als Elektrotechnikerin.

Mein Engagement in der Flüchtlingshilfe dauert bis zum heutigen Tag an. Auf dem Grundstück neben der Schule, die ich in Dnipropetrowsk besucht habe, schlug eine Rakete ein. Eine andere zerstörte einen Markt in der Nähe eines Hauses, wo ich nach meiner Hochzeit mit meinem damaligen Mann einzog. Mein Sohn engagierte sich, als er noch jünger war, im Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde in Hannover. Das inspirierte mich, etwas für russischsprachige Menschen in unserer Gemeinde zu tun.

So kam ich auf die Idee, meine Liebe zum Buch damit zu verbinden, und fing an, eine Literaturgruppe aufzubauen und Festivals, Lesungen und Konzerte zu organisieren. Jüngst fand das Festival »Poesie gegen Terror« erst in Hannover, dann in Berlin beim Projekt Impuls statt. Über mehrere Tage hinweg gab es Lesungen und Ausflüge. Viele russischsprachige Autoren aus Italien, den USA, Israel, den Niederlanden, Tschechien, Bulgarien und natürlich aus ganz Deutschland nahmen teil.

Jeden Tag lese ich, oft spiele ich Klavier

Über das Kompliment eines englischen Dichters habe ich mich besonders gefreut: »So wie bei Ihnen habe ich noch nie gesprochen.«
Seit vielen Jahren bin ich auch Vorsitzende des Literaturstudios Hannover und organisiere das internationale Festival »Hannoverscher Frühling« für Autoren, die sich mit Prosa und Lyrik beschäftigen. Ich stelle kulturelle Veranstaltungen auf die Beine – seit 2009 immerhin mehr als 160.

2009 haben wir die Ukraine noch einmal besucht. Da nahm mich meine Tochter an die Hand und sagte: »Vielen Dank, dass du uns nach Deutschland gebracht hast.« Es war für uns alle die richtige Entscheidung.
Jeden Tag lese ich, oft spiele ich Klavier. Meine Hände sind immer noch ganz fein, was mir sehr wichtig ist. Eine Tradition habe ich mir aus der Ukraine mitgebracht, die der Datsche. Sieben Rosensorten wachsen in meinem kleinen Garten, und jetzt blühen gerade die Astern. Bald stecke ich Tulpenzwiebeln in die Erde. Natürlich baue ich auch Tomaten und Gurken an. Es macht mir Spaß. Mit nur einem Koffer kam ich aus der Ukraine – und jetzt besitze ich so viel und fühle mich reich.

Aufgezeichnet von Chris Meyer

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