Alltag

Die Wünsche der anderen

»Wir können uns mit unserem Banknachbarn nicht unterhalten«, sagt Esther Blume (Name von der Redaktion geändert). »Warum zum Gottesdienst gehen, wenn ich zwischendurch immer warten muss, bis das Ganze übersetzt wird? Das Schabbatmorgengebet dauert ohne Übersetzung schon fast drei Stunden.« Stimmen wie ihre hört man immer wieder. Die alteingesessenen Mitglieder fühlen sich kaum noch wohl in ihren Gemeinden und kehren ihnen immer häufiger den Rücken.

Für sie hat die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWSt) in diesem Jahr zum zweiten Mal eine Bildungsfreizeit im Angebot. Vom 30. März bis 13. April steht ihnen das Eden-Park-Hotel in Bad Sobernheim zur Verfügung. Sozialreferentin Paulette Weber rechnet in diesem Jahr mit rund 50 Teilnehmern. Im vergangenen waren es 33. »Viele zögerten und waren skeptisch, weil sie glaubten, ihnen werde wieder ein russischsprachiges Kulturprogramm geboten«, erklärt Weber. Daher sei es beim ersten Mal schwierig gewesen, die Menschen zu erreichen. »Sie gehen nur noch sehr selten in die Gemeinden.«

Quatschen Zum Reden Ein Dilemma, das beispielsweise Dresden mit speziellen Angeboten zu beheben versucht. Seit Jahren gibt es hier einen Klub, der sich mehrmals im Jahr trifft. »15 bis 20 deutschsprachige Juden kommen regelmäßig zum Quatschen«, erzählt Geschäftsführer Heinz-Joachim Aris. »Die Einrichtung besteht schon seit Jahren und ist von unserer ZWSt-Mitarbeiterin Karin Buron initiiert worden.«

Doch es kommen nicht nur ältere Mitglieder, wie man meinen könnte. In der Elbstadt gibt es einige Juden, die schon vor dem Mauerfall zum konfertiert waren und sich gern im Klub der Deutschsprachigen treffen. »Deren Interessen gehen sonst im alltäglichen Gemeindeleben unter«, sagt Aris. »Sie fühlen sich nicht mehr zu Hause.« Im Klub der Alteingesessenen sollen sie das Gefühl bekommen, nicht verdrängt zu werden. Dabei ist schon die Sprachregelung schwierig.

Die Bezeichnung Neuzuwanderer passt nicht mehr, leben die russischsprachigenJuden doch schon seit 15 Jahren und länger in der Bundesrepublik. Auch die Muttersprache der Alteingesessenen ist nicht immer nur Deutsch. Viele von ihnen sind erst in den 50er-Jahren oder später nach Deutschland zurückgekommen, in das Land, aus dem ihre Eltern geflohen oder deportiert worden waren. Oder sie kamen aus Ländern wie Argentinien, Israel oder Frankreich.

Das Gefühl bleibt dennoch, in den Gemeinden wird Russisch gesprochen und die, die es nicht beherrschen, bleiben außen vor. »Natürlich nehmen fast alle an den großen Feiern zu Chanukka und Purim teil. Doch ab und zu brauch die Alteingesessenen auch ihre Freiräume. Manchmal fühlen sie sich nur untereinander wohl«, sagt Aris. Trotz der Leitlinie der Gemeindeführung, in den Versammlungen immer Deutsch zu sprechen, scheint das Bedürfnis nach diesen Treffen ausgeprägt. »Die Unterhaltungen sind anders, die Themen sehr verschieden, auch die Probleme, die besprochen werden, unterscheiden sich von denen der Zuwanderer.«

nur im ansatz Die Bremer Gemeinde wollte vor Jahren einmal einen Interessenklub für Alteingesessene einrichten. Das habe sich dann doch nicht ergeben, sagt Elvira Noa. 95 Prozent ihrer Gemeinschaft sind zugewandert. Inzwischen sprechen 99,5 Prozent der Gottesdienstbesucher russisch, betont Noa. »Wir haben von Anfang an auf Zweisprachigkeit gesetzt«, sagt die Vorsitzende. Durch ihre Tätigkeit im Senat und bei der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, und nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Familiengeschichte, sei sie mit Mehrsprachigkeit vertraut.

»Es haben sich Gott sei Dank nie Fronten aufgebaut«, erzählt sie. Von den neun Repräsentanten sind zwei alteingesessen. »Die anderen sieben beherrschen die deutsche Sprache hervorragend. Es ist wohl auch eine Frage, wie man mit dem deutsch-russischen Problem umgeht«, sagt Noa, die auch die Erfahrung gemacht hat, dass die Zuwanderer den Alteingesessenen sehr viel Respekt entgegenbringen. »Sie haben mitunter große Angst, etwas falsch zu machen und haben daher große Achtung vor den Erfahrungen der anderen und möchten sie nutzen. Sie sind auf sie angewiesen.« Die älteren Zuwanderer seien auch schlicht und ergreifend damit überfordert, Deutsch zu lernen.

Alles zweisprachig Dem trägt auch die Synagogen-Gemeinde Köln Rechnung. Ihr monatliches Magazin veröffentlicht – wie es auch die meisten anderen tun – ihre Artikel zweisprachig. Auf der linken Seite ist der Text auf Russisch verfasst, rechts steht er auf Deutsch. »Wir sind damit gut gefahren«, sagt Geschäftsführer Benzion Wieber. »So kann jeder Wichtiges aus dem Gemeindeleben erfahren.«

Bei Versammlungen wird simultan übersetzt. »Wir sind ein Dienstleistungsbetrieb, der alle Mitglieder in sozialen, kulturellen, religiösen Belangen befriedigen soll«, sagt Wieber. Mit kölscher Gelassenheit werde eben auf die Bedürfnisse eines Jeden eingegangen. So gibt es einen deutschsprachigen und einen russischsprachigen Altenklub. 80 Prozent der der Kölner Juden sind zugewandert.

In Stuttgart liegt der Prozentsatz der russischsprachigen Mitglieder etwas unter dem der Kölner. Aber große Probleme zwischen den Alteingesessenen und den Zuwanderern habe es nicht gegeben. »Vielleicht weil der Vorstand von Deutschsprechenden besetzt ist«, vermutet Traub.

Auch Michael Kashi, in Israel geboren und seit mehr als 35 Jahren in Deutschland lebend, wird als deutschsprachiges Vorstandsmitglied geführt. »Es hat mal Fragen gegeben, ob man eine deutschsprachige Gruppe einführen könne und auch leise Kritik, ob man denn immer übersetzen müsse, das halte auf«, erzählt Traub. »Aber eigentlich streben wir ja die Gemeinsamkeit an.«

Konzept entwickeln In Leipzig gibt es daher einen Beauftragten im Vorstand, der für den Kontakt zu den deutschsprachigen Gemeindemitgliedern zuständig ist. Doch so genau, was dort zu tun ist, weiß der hierfür gewählte Volodymyr Solovey selbst noch nicht. Er gehört zum zweiten Mal hintereinander dem Vorstand an.

Im Februar, wenn Gemeindevorsitzender Küf Kaufmann aus dem Urlaub zurück ist, wolle man ein Konzept erstellen und fragen, welche Erwartungen die deutschsprachigen Mitglieder haben, gibt Solovey zu verstehen. Er schätzt, das etwa 40 Personen sich in Leipzig von einem speziellen Angebot angesprochen fühlen könnten. Zehn habe er vor Kurzem getroffen. Auch in der Messestadt gilt, dass es sich lohnt, den »alten Mitglieder« eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Auch die ZWSt scheint sich eher wieder der dieser Alteingesesssenen zu besinnen. Die ja, wie Heinz-Joachim Aris aus Dresden sagt, diejenigen sind, die jüdisches Leben in Deutschland nach der Schoa wieder aufgebaut haben. Warum es allerdings erst seit einem Jahr die Bildungsfreizeit für sie gibt, kann sich Paulette Weber von der Wohlfahrtsorganisation auch nicht erklären.

»Vielleicht haben wir zunächst einmal genug mit der Integration zu tun gehabt und erst jetzt gesehen, dass die anderen auch Wünsche haben.« Vielleicht aber kommen diese Angebote auch schon viel zu spät, denn viele Gemeinden beklagen, dass mehr und mehr Mitglieder den Veranstaltungen fernbleiben.

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