Porträt der Woche

Die Überlebenskünstlerin

»Dass ich zur Geschichte meiner jüdischen Vorfahren kam, hat etwas mit meiner Krankheit zu tun«: Sarah Blumenfeld (49) aus Mannheim Foto: privat

Porträt der Woche

Die Überlebenskünstlerin

Sarah Blumenfeld fand durch den Krebs zu ihren Wurzeln und wurde Cancer Coach

von Alicia Rust  18.05.2025 14:37 Uhr

Normalerweise ist die Geburt eines Kindes mit einem unbändigen Glücksgefühl verbunden. Es gibt kaum etwas Schöneres, als einen neuen kleinen Erdenbürger zu begrüßen, die Haut eines Babys zu spüren, seine Wärme, den Geruch. Als Mutter wird man von Glückshormonen durchströmt. Man nimmt sich vor, dieses kleine Wesen ein Leben lang zu begleiten. Es zu lieben und zu beschützen.

Dieses Glück währte nach der Geburt meines zweiten Sohnes nur kurz. Drei Monate nach seiner Ankunft erhielt ich eine niederschmetternde Diagnose: Brustkrebs. Ich war 29 Jahre alt, und der Film in meinem Kopf bekam einen Riss.

Zunächst nahm ich mir vor, alles zu tun, was in meiner Macht stand. Um mein Überleben zu kämpfen. Für meine Kinder. Also machte ich eine Chemotherapie, verlor meine Haare, als Nächstes folgte die Brustamputation. Damit war dieser Albtraum aber noch nicht vorbei. Wenige Monate später erhielt ich eine weitere Diagnose: Lebermetastasen. Normalerweise ein Todesurteil. Die Ärzte gaben mir noch ein halbes Jahr.

In der dunkelsten Zeit meines Lebens haben meine Kinder mir Kraft gegeben

Mit so etwas vor Augen hat man nur noch die Möglichkeit, sich seinem Schicksal zu fügen und in ein Hospiz zu gehen, alle Angelegenheiten zu regeln und mit dem Leben abzuschließen. Für mich kam das nicht infrage. Wenn ich mich heute auch wundere, woher ich damals die Kraft genommen habe und die Vermessenheit, zu meinen, das Schicksal mache eine Ausnahme für mich.

Von Oktober 2005 an habe ich in Heidelberg gelebt und um mein Leben gekämpft. Dazu musste ich alles loslassen. Erst 2006 habe ich meine beiden Kinder wieder zu mir geholt. In der dunkelsten Zeit meines Lebens haben sie mir Kraft gegeben. Fünf Jahre habe ich mich ausschließlich ketogen ernährt, ohne Zucker, keine Kohlenhydrate. Inzwischen ist die Krebsforschung viel weiter fortgeschritten. Heute würde ich einiges anders machen, aber damals schien es für mich der richtige Weg. Sport habe ich auch intensiv betrieben. Meine Ärzte konnten es nicht glauben, in diesem Zustand bin ich erst einen Halb-, dann einen richtigen Marathon gelaufen. Es waren Spendenläufe für die Krebsforschung.

Kurz nach der Krankheit habe ich mich von meinem damaligen Mann getrennt. Was mir in dieser schweren Zeit geholfen hat, war das Führen eines Tagebuchs. Aus dem Tagebuch ist später mein erstes Buch entstanden: Cancer Coaching: Eine genesene Krebs-Patientin und Onko-Beraterin klärt auf.

Es ist am 7. Oktober 2023 erschienen. Wenn man das alles betrachtet, ist es schwer, nicht an Schicksal zu glauben.

Seit 16 Jahren gelte ich als geheilt. Es muss einen Grund geben, weshalb ich das überstanden habe.

Ein wichtiges Thema in meinem Buch ist die Suche nach mir selbst. Darum geht es. Denn nur, wenn wir wissen, wer wir sind, können wir andere verstehen. Viele Menschen machen sich ein Leben lang etwas vor, und das fühlt sich in etwa an, wie mit einem blinden Fleck im Auge durchs Leben zu gehen. Irgendwo bleibt immer etwas Störendes. Das macht auf Dauer krank.

Seit 16 Jahren gelte ich als geheilt. Es muss einen Grund geben, weshalb ich überlebt habe. Heute helfe ich anderen dabei, diese schreckliche Krankheit zu bekämpfen. Wenn andere mich als stark bezeichnen, freut mich das, aber ich glaube, es hat gar nicht so viel mit Stärke zu tun, sondern mit Entschlossenheit. Und mit Disziplin. In diesen Kampf zu gehen, bedeutet auch, in den Kampf mit sich selbst zu treten. Das kann schmerzhaft sein.

Heute betrachte ich vieles mit Abstand und Gelassenheit. Als inzwischen professioneller Cancer Coach kann ich die Dinge sehr gut lesen, weil ich dabei auch mit mir selbst in die Tiefe und in den Austausch gehe. Eine professionelle Distanz zu behalten, ist aber wichtig.

Auch heute arbeite ich eng mit Medizinern zusammen

Durch die Krankheit bin ich an mir gewachsen. Wenn der Punkt da ist, an dem ich glaube, dass ich kämpfen muss, kenne ich keine Angst. Das gilt inzwischen für sämtliche Lebensbereiche. In den vergangenen 15 Jahren habe ich eine Ausbildung nach der anderen absolviert, um meine Fähigkeiten zu erweitern.

Seit sieben Jahren arbeite ich als Cancer Coach, seit fast 15 Jahren bin ich zertifizierte Personal Trainerin. Der medizinische Ansatz war mir immer vertraut, schließlich habe ich früher bei chirurgischen OPs als erste Assistenz im Bereich der Mund- und Kieferchirurgie gearbeitet. Auch heute arbeite ich eng mit Medizinern zusammen, lese die Arztbriefe genau, spreche mich mit Onkologen ab, es gibt keine Alleingänge.

Schon in meiner Kindheit hat die Disziplin eine Rolle gespielt. Ich habe immer gern geturnt, mit fünf Jahren hat mich mein Vater in einen Leistungskurs im Kunstturnen gebracht. Ich erinnere mich noch an einen Satz, den er beiläufig gesagt hat: Du bist ja genau wie der Opa. Da wusste ich noch nichts von meinem familiären Hintergrund. Von den Blumenfelds, einer berühmten jüdischen Artistenfamilie, deren Leben der Zirkus war. Heute weiß ich, dass mein Großvater Heinz Heinricht ein Jude war.

Ich verbrachte jede freie Minute in der Turnhalle

Bodenturnen, Schwebebalken, Stufenbarren, Flickflack, das alles war für die nächsten neun Jahre meine Welt, ich verbrachte jede freie Minute in der Turnhalle. Mich dehnend, stählend, die Abläufe der Choreografie perfektionierend, jeden Schmerz weglächelnd. Ich war total entschlossen. So klein ich damals war, verkündete ich meinen Eltern: »Ich will einmal eine berühmte Kunstturnerin werden!« Das war genau mein Ding, wobei ich heute über das Adjektiv »berühmt« lachen muss. Und das alles, ohne die leiseste Ahnung zu haben, dass ich damit in etwa genau in die Fußstapfen meiner jüdischen Vorfahren trat, deren erfolgreiches Zirkus- und Artistenimperium durch die Nationalsozialisten komplett ausgelöscht wurde. Blumenfeld ist der Name meiner Urgroßmutter.

Sicher bin ich auch krank geworden, weil ich immer auf Identitätssuche war. Weil ich mich so, wie ich bin, in Deutschland irgendwie fehl am Platz fühlte, mit diesem jüdisch-italienischen Temperament. Nach der Scheidung meiner Eltern sind mein Bruder und ich hauptsächlich bei meiner Mutter aufgewachsen, die italienische Wurzeln hat.

Mein Vater war sehr belesen, nach und nach hat er – gemeinsam mit mir – seine jüdischen Vorfahren aufgespürt. Das verbindet uns heute. Dass ich zur Geschichte meiner jüdischen Vorfahren kam, hat definitiv etwas mit meiner Krankheit zu tun. Wir wussten immer: Da gibt es etwas in der Familie, über das wir nicht sprechen konnten. Weil es von der Vergangenheit verschluckt worden war.

Über eine Ahnen-Plattform traf ich auf andere Blumenfelds

Nach der Not-OP, bei der meine Leber zu drei Viertel entfernt wurde, hatte ich im Aufwachraum einen Herzstillstand und musste 50 Minuten lang wiederbelebt werden. Eine Nahtoderfahrung. Als ich wieder aufgewacht bin, wusste ich, ich würde Sarah heißen. Danach führte ein Schritt zum nächsten. Ich machte einen Gentest, und plötzlich hatte ich Gewissheit. Um sicherzugehen, dass ich auch wirklich jüdische Gene hatte, machte ich einen weiteren Test, und auch dieser zeigte das gleiche Ergebnis an.

Diejenigen, die den Nationalsozialismus überlebt hatten, waren inzwischen in alle Welt zerstreut.

Über eine Ahnen-Plattform traf ich auf andere Blumenfelds, unsere Familie ist weit verzweigt, und diejenigen, die den Nationalsozialismus überlebt hatten, waren inzwischen in alle Welt zerstreut.

Mit dem Wissen um meine Familiengeschichte wollte ich unbedingt nach Israel, mit meiner Buchveröffentlichung war ich gerade fertig. Zu meinem Mann habe ich gesagt: »Komm, wir fahren wir nach Israel.« Ein weiterer wichtiger Schritt in meiner Biografie.

Inzwischen bin ich eng mit vielen Blumenfelds verbunden. Wir vergleichen Fotos, Namen, Geburts- und Todestage, und plötzlich ergibt alles einen Sinn. Mein Onkel in Dänemark ist Künstler, der Kontakt zu diesem Teil der Familie ist sehr intensiv. Von ihm habe ich vieles über meinen Großvater erfahren. Der Rest der Familie ist über Skandinavien verstreut. Wenn wir uns begegnen, ist es so, als hätten wir uns schon immer gekannt.

Diese Verbindung zum Judentum gibt mir Kraft

Drei Jahre hat es gedauert, bis ich ordentlich zum Judentum konvertieren konnte. Dabei hat mich Rabbi Paul Moses Strasko begleitet. Es war ein Schritt, den ich bewusst gegangen bin. Heute feiere ich den Schabbat, jeden Freitag gehe ich in die Synagoge von Mannheim. Diese Verbindung zum Judentum gibt mir Kraft. Es ist, als hätte ich mich endlich gefunden.

Im Moment bin ich mit dem Projekt meines Lebens beschäftigt: Ich befinde mich in den letzten Zügen der Fertigstellung eines Drehbuchs. Auch dabei habe ich wieder schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Im 150-seitigen Drehbuch werden persönliche Erfahrungen mit gesellschaftlich relevanten Themen wie Resilienz, jüdische Identität, Krebsüberleben und Antisemitismus verbunden.

Es ist sehr speziell, wenn es etwa um die Szene geht, in der die einzelnen Akteure zum Transport ins Konzentrationslager abgeholt werden. Ich musste mich da hineinversetzen und mir Dialoge überlegen. Auch das Hineindenken in den Duktus der Nationalsozialisten war eine Herausforderung. Schlussendlich wird es ein Film, der sich im Kern darum dreht, dass wir alle nicht wissen, was wir in uns tragen. Weder genetisch noch durch Prägung. Somit geht es dabei auch gegen Rassismus und Diskriminierung jedweder Art.

Aufgezeichnet von Alicia Rust

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