Köln

Die Stadt unter der Stadt

Janine Müller-Wüstenberg und Michael Wiehen haben sich neon-gelbe Jacken und Sicherheitsschuhe angezogen. Auch einen Helm setzen sie sich auf, bevor es hinabgeht in den Kölner Untergrund. Die beiden betreten eine unübersichtliche Welt aus altem Gemäuer, Schotter und Beton, mal düster und mal von Baustrahlern hell beleuchtet. Runde Torbögen in den alten Wänden lassen erahnen, dass hier Historisches zu sehen ist. Aber was genau?

Die beiden helfen, die »Stadt unter der Stadt« ein wenig zu entschlüsseln. Im hier entstehenden Jüdischen Museum MiQua können sich künftig Besucherinnen und Besucher ein Bild davon machen, wie jüdische und christliche Bewohner Kölns in verschiedenen Epochen lebten. In dem Mega-Projekt mitten in der Altstadt legen derzeit Archäologen Denkmäler von europäischer Bedeutung frei. Müller-Wüstenberg leitet das Bauvorhaben und Wiehen die archäologischen Ausgrabungen.

Rundgang »MiQua«: Das steht für »Museum im Quartier«. Der Begriff lehnt sich an das hebräische Wort Mikwe an, ein jüdisches Ritualbad - auch ein solches gibt es in der archäologischen Zone. Auf rund 6000 Quadratmetern kreieren Architekten einen unterirdischen Rundgang durch die Jahrhunderte.

Zu sehen sein wird ein ab dem 1. Jahrhundert nach Christus gebautes Praetorium, also der Palast der kaiserlichen Statthalter Roms. Er gehört mittlerweile zum niedergermanischen Weltkulturerbe. Zudem zeigen sich Zeugnisse aus dem Mittelalter: das jüdische Viertel und das christliche Goldschmiedeviertel. Die jüdische Gemeinde Kölns gehört zu den ältesten nördlich der Alpen.

An Begeisterung mangelt es dem Chef-Archäologen Wiehen nicht: »Man sagt immer: 2000 Jahre Geschichte an einem Ort - und ich sag: ja, haben wir!« Über einen Schotterweg geht es in den alten Keller des Hauses Bardowick, das vor 1200 vielleicht als erstes Zunfthaus der Goldschmiede diente. Mit sechs Metern unter der Oberfläche ist das die tiefste Stelle des »Archäologischen Quartiers«.

Dauerausstellung Müller-Wüstenberg steht vor einem Durchgang zum Nachbarkeller. »Damals waren die Keller abgetrennt zu denen der Nachbarn, aber im Museum will man da ja durchgehen.« Geplant ist ein etwa 600 Meter langer Rundgang als Dauerausstellung.

»Das Problem ist, dass wir hier in einem völligen Durcheinander unterschiedlichster Bauphasen sind«, erläutert Wiehen. »Wir müssen uns viele Tricks einfallen lassen, um den Parkour denkmalverträglich und barrierefrei zu gestalten.« Denn im Gemäuer seien nah beieinander Überreste aus mittelalterlichem Mauerwerk neben Teilen einer römischen Badeanlage mit Warmluftheizung aus dem 2. bis 3. Jahrhundert. Für den Durchbruch habe das Team eine Stelle wählen müssen, an der man das am wenigsten Erhaltenswerte schädige.

Immer wieder machen die Archäologen überraschende Funde, die die Architekten denkmalgerecht in den Rundgang einpassen müssen. Umgekehrt hängen auch die archäologischen Ausgrabungen vom Baufortschritt ab. Deutlich wird dies im Haus des mittelalterlichen Goldschmieds Nichols, das 1288 von der jüdischen Gemeinde erworben und in Teilen bis 1349 als Backhaus genutzt wurde - dem Jahr, als in einem Pogrom fast die gesamte jüdische Bevölkerung Kölns ermordet wurde.

Betonfundament Wie an vielen Orten im archäologischen Quartier muss erst das Gemäuer stabilisiert werden. Denn die Wände reichten nicht tief genug in den Boden, erklärt die Projektleiterin. Mit aufwendiger Technik müssen sie mit einem Betonfundament gestützt werden. Es gibt anderthalb bis zwei Meter hohe Unterfangungen - »je nachdem, wo die Römer oder die Herrschaften im Mittelalter aufgehört haben zu bauen«.

Im Haus der jüdischen Lyvermans, die im 13. Jahrhundert hier lebten, kommt der profane Alltag jüdischer Kölnerinnen und Kölner besonders nah. Auf einer Steinmauer findet sich eine hebräische Inschrift. Es ist laut dem Archäologen die weltweit einzige Bedienungsanleitung zur Entleerung einer Latrine. Übersetzt stehe da in etwa: »Das ist das Fenster, durch das die Exkremente herausgeholt werden.«

Gemeint ist eine Mauerstelle, die alle paar Jahre aufgebrochen wurde, um den »Driss« zu entsorgen. Über die Auswertung der Latrinen-Inhalte konnten die Experten nachweisen, dass Jüdinnen und Juden damals das gleiche Geschirr nutzten wie ihre christlichen Nachbarn. Im Prinzip habe sich ihr Alltagsleben kaum voneinander unterschieden, so Wiehen.

Juden Zurück ans Tageslicht, in den Bereich des Hochbaus. Hier wird sich der Ausstellungsrundgang überirdisch fortsetzen: in einem hallenartigen Schutzbau, direkt über den mittelalterlichen Überresten. Eine Dauerausstellung zeigt dort künftig die jüdische Geschichte und Kultur Kölns von 1424, dem Jahr der Vertreibung der Juden aus der Stadt, bis in die Moderne.

Auch die Ausschreitungen von 1349 sind archäologisch anhand von Schuttüberresten nachzuvollziehen. Sie enthalten Teile zerstörten Inventars aus den jüdischen Häusern sowie Spuren von Brand. »Das Erdprofil ist direkt die Folge dieses katastrophalen Pogroms im Jahr 1349. Das können wir auf den Tag datieren, nachts vom 23. auf den 24. September«, erläutert Wiehen.

Mit unzähligen archäologischen Artefakten lassen sich auch die »Geschichten des Lebens« nacherzählen, betont der Ausgrabungsleiter. Eine Schiefertafel etwa bildet ein krakeliges Gesicht ab, unter dem in hebräischen Lettern »Esel« steht. Es könne als Lehrerkarikatur eines Kindes gedeutet werden.

Von heiterem jüdischen Leben zeugt auch ein ehemaliger Tanzsaal, der von oben einzusehen ist. Schriftliche Quellen dokumentieren, dass Mitte des 12. Jahrhunderts die jüdische Gemeinde hier zwei Häuser erwarb, um ein Hochzeits- und Festhaus zu errichten. Es eröffneten sich nicht nur Blicke in den Tod, sondern auch ins Leben, so Wiehen. »In diesem Viertel wurde gelacht, gespielt, geheiratet, gestritten und sich wieder versöhnt.«

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