Jom Haschoa

»Die Last mehrerer Leben«

Der »Gang der Erinnerung«, der die Synagoge mit dem Gemeindezentrum verbindet Foto: IKG München und Oberbayern

Es ist ein besonderer Tag in Israel: Jom Haschoa, ein Tag des Gedenkens, des Nachdenkens, Erinnerns und des Lernens. Kurz zuvor, zum 79. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto und zum 77. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager gedachte auch die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern der Opfer und warf zugleich einen Blick in die Zukunft, in der irgendwann keine Überlebenden mehr über das Grauen jener Zeit sprechen können.

»Die Millionen Menschen, die im deutschen Namen ermordet wurden, sind nicht vergessen, und sie dürfen niemals vergessen werden«, sagte IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch bei der Gedenkstunde in der Ohel-Jakob-Synagoge. Ellen Presser, Leiterin des Kulturzentrums der Gemeinde, die seit vielen Jahren das Gedenken zum Jom Haschoa vorbereitet, hatte in diesem Jahr ganz bewusst die Überlebende als Rednerin erbeten. Sie verband damit den Blick in die Zukunft und stellte den Abend unter das Motto »Den Staffelstab der Erinnerung weitergeben«.

In diesem Sinn dankte Charlotte Knob­loch den Jugendlichen, »die sich als aktiver Teil dieser Gedenkfeier einbringen und die heute an all diejenigen erinnern, die nicht unter uns sind«. Das Jugendzentrum Neschama ehrte die Opfer auch in diesem Jahr wieder durch Rezitationen – und zeigte so eine Möglichkeit zukünftiger Erinnerungsarbeit auf: »Eine Vergangenheit, die unvergessen bleibt«.

el MALE RACHAMIM Gleich zu Beginn hatte der Synagogenchor »Schma Kaulenu« unter Leitung von David Rees und der musikalischen Begleitung von Luisa Pertsovska das »Elohai N’zor Leschoni« nach der Musik von Danny Maseng vorgetragen. Bevor Rabbiner Shmuel Aharon Brodman das Gedenken mit dem »El Male Rachamim« abschloss, sprach Charlotte Knobloch.

Ihr Weg in die Synagoge hatte sie einmal mehr durch den Gang der Erinnerung geführt, in dem die Namen der Münchner Opfer des nationalsozialistischen Terrors stehen, unter anderem auch der ihrer Großmutter Albertine Neuland. Schon bei der Planung des Gemeindezentrums war Charlotte Knobloch dieser Gang mit seiner Lichtinstallation ein wichtiges Anliegen. Hier sollten alle Menschen, auch nachfolgende Generationen, an die Vergangenheit erinnert werden, damit der Schrecken der NS-Zeit niemals in Vergessenheit gerät.

»Ohrenbetäubende Stille ist bis heute alles, was wir von sechs Millionen ermordeten jüdischen Männern, Frauen und Kindern hören können. Wer heute unterwegs ist an den Orten des Schreckens – in Auschwitz oder Dachau –, den trifft diese Stille. Sie ist das verstummte Lachen und die nie wieder gehörte Stimme von Millionen geliebter Menschen. Sie begleitet die Generationen, die nach dem Holocaust geboren wurden, ebenso wie uns Überlebende. Sie begleitet mich seit fast acht Jahrzehnten«, beschrieb sie ihren Gefühlszustand.

»Jeder Überlebende hat seine Geschichte«, hat Charlotte Knobloch einmal gesagt. Genau diese Erinnerungen sind es, die die Zeitzeugenberichte so wertvoll machen – und kaum ersetzbar, selbst wenn sie in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Gerade die Gefühle und Ängste des kleinen Mädchens aus München, das Charlotte Knob­loch zu dieser Zeit war, zeigen, was historische Fakten nicht ausdrücken können.

abschied Die Zeitzeugin erzählt: »In diesem Jahr jährt sich zum 80. Mal der Tag, da ich Abschied nehmen musste. Ich erinnere mich noch in allen Details daran, wie meine geliebte Großmutter, Albertine Neuland, mich im Juli 1942 zu sich rief. Sie werde demnächst eine Zeit lang auf Kur fahren, meinte sie zu mir – aber sie sei nicht lange weg und komme danach erholt und gesund wieder. Ich weinte bitterlich, denn ich wusste ganz genau: Es gab in Wirklichkeit keine Kur. Meine Großmutter ging auf einen Transport.«

»Die Vergangenheit muss präsent bleiben, aber sie darf nicht Zukunft werden.«

Charlotte Knobloch

Dass die Ahnung und Befürchtung der Neunjährigen der Realität entsprachen, sollte sie erst nach 1945 erfahren. Ihr Wissen um die Repressalien und die Vernichtungsaktionen hatte sie durch die Tätigkeit ihres Vaters aber schon früh mitbekommen: »Mein Vater, der nach Entzug seiner Anwaltszulassung wie alle anderen jüdischen Anwälte als sogenannter Konsulent nur noch jüdische Mandanten betreuen durfte, bekam deshalb regelmäßig Besuch von verzweifelten Menschen. Den Deportationsbescheid in der Hand, flehten sie ihn an, er möge doch noch irgendetwas für sie tun. Fast immer zogen die Besucher unverrichteter Dinge wieder ab. Meinem Vater waren die Hände längst genauso gebunden wie ihnen.«

Auch für Vater und Tochter wurde es gefährlich. So brachte Siegfried Neuland die Neunjährige in ein Dorf namens Arberg zu Kreszentia Hummel, die einst im Haushalt seines längst ausgewanderten Bruders Willy Neuland gearbeitet hatte. Er bat die Familie, seine Tochter Charlotte für einige Zeit aufzunehmen.

Vorübergehend, wie es zunächst hieß. Die Gehässigkeit der Dorfbewohner ließ die Aktion schnell »legal« und dauerhaft werden: Sie beschimpften die fromme Frau, nun ihr »Bankert«, ihr uneheliches Kind, zu sich geholt zu haben.

versteck Das Großstadtkind aus gutbürgerlichen Verhältnissen lebte für drei Jahre auf einem Bauernhof in einem katholischen Dorf: »Was ich bisher getan hatte, zählte nicht mehr. Wichtig war nur, dass es mir gelang, glaubhaft die Rolle zu spielen, die mir zugedacht war – sonst hätte das nicht nur für mich, sondern auch für Familie Hummel den Tod bedeutet. Ich tat deshalb alles, um mich anzupassen.«

Die Belastungen für sie waren immens: »Wer so unter falscher Identität und dank der Hilfestellung fremder Menschen überlebt, der lebt in ständiger Angst davor, dass die eigene jüdische Herkunft entdeckt wird. Dieses Überleben bedeutet, die Familie zu verlassen, die Religion aufzugeben, einsam zu sein und sich Schweigen anzugewöhnen. Und vor allem: niemandem zu trauen.« 1945 konnte ihr Vater sie wieder in die Arme schließen – und nach München zurückbringen. Doch alles war anders.

Aus heutiger Sicht weiß Charlotte Knob­loch: »Jeder Zeitzeuge trägt die Last mehrerer Leben – auch ich. Die Erfahrung von Verlust und Verzweiflung, von Hilflosigkeit und ganz besonders der Angst, die jeden Winkel des Alltags ausgefüllt hat, prägen einen Menschen. Die Zahl derer, die auch von solchen Erlebnissen berichten konnten, schrumpft mit jedem Tag.«

zukunft Ihre Forderung für die Zukunft lautet daher: »Aus dem politischen Auftrag des Grundgesetzes, das die Menschenwürde zum höchsten staatlichen Auftrag erklärte, und dem wachsenden Bewusstsein für die Geschichte erwuchs endlich ein Verständnis dafür, dass Frieden, Freiheit und Wohlstand uns nicht in den Schoß fallen, sondern erarbeitet werden müssen. Die Vergangenheit muss präsent bleiben, aber sie darf nicht Zukunft werden: Zu erreichen ist dies nur, indem die Erinnerung an die Zeit zwischen 1933 und 1945 wachgehalten wird.«

Charlotte Knobloch setzt dabei auf die Jugend: »Die jungen Menschen von heute werden die erste Generation sein, die den Staffelstab der Erinnerung allein zu tragen hat. Ohne Überlebende, ohne Zeitzeugen.«

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024