München

»Die Kinder werden den Weg zeigen«

Jella Lepman (vorne) beim Fest zum fünften Geburtstag der Internationalen Jugendbibliothek 1954 Foto: Hans Schürer

Eine amerikanische Militärmaschine schaukelt 1945 Deutschland entgegen. An Bord befindet sich Jella Lepman, vielleicht mit einem dieser Hütchen auf dem Kopf, die sie so mochte, eine schlanke Frau von Mitte 50.

Es war Herbst, und je nach Sicht konnte sich Lepman, die als ausgewiesene Expertin für Kinder- und Jugendliteratur galt, von dort oben ein erstes Bild von Deutschland nach dem Krieg machen. Der Flug ist als »abenteuerlich« überliefert, und das war das ganze Unternehmen – obwohl es sich ganz offiziell ein wenig anders angehört hat: Die amerikanische Militärregierung hatte Jella Lepman, damals britische Staatsbürgerin, ins amerikanische Hauptquartier nach Bad Homburg gebeten und berief sie im Rahmen ihres »Re-Education«-Programms als »Special Advisor for Women’s and Youth Affairs«. Jella Lepman hatte damit quasi den Rang eines Majors.

TRAUMBESETZUNG Trotzdem hätte sie dieses Angebot ablehnen können. Auch wenn die Amerikaner, als sie in London mit ihrem »Stellenangebot« in der Tasche bei ihr anklopften, sehnlichst auf eine Zusage hofften. Denn Jella Lepman konnte wegen ihrer Lebensgeschichte, ihren Erfahrungen, ihrer Professionalität, ihrem Engagement für Demokratie, für Kinder und Jugendliche mit Fug und Recht als Traumbesetzung bezeichnet werden.

Aber sie war zögerlich. Was für ein Deutschland würde sie erwarten? Wie würde man dort mit einer zurückgekehrten Jüdin umgehen? Wie würde sie sich fühlen, nach all dem, was passiert war, nach zehn Jahren im Exil?

Jella Lepman sagte zu – eine Entscheidung, die für viele Kinder im Nachkriegsdeutschland von Bedeutung war, und die für die Bücherwelt der Kinder und Jugendlichen bis heute von Bedeutung ist. 1945 kam Jella Lepman in Bad Homburg an, und das Unternehmen »Kinderbuchbrücke« konnte beginnen.

Schon mit 17 richtete Lepman eine internationale Lesestube für Arbeiterkinder ein.

Geboren wurde Jella Lepman 1891 als Jella Lehmann in Stuttgart. Sie ist die älteste von drei Töchtern des Textilfabrikanten Joseph Lehmann und dessen Frau Flora, einer geborenen Lauchheimer. Das Elternhaus ist jüdisch, der liberalen Synagogengemeinde der Stadt zugeneigt und äußerst demokratisch gesinnt. Als junges Mädchen besucht Jella das Stuttgarter Königliche Katharinenstift, eine Höhere Töchterschule mit Tradition. Um ihre Fremdsprachenkenntnisse zu erweitern, geht sie für ein Jahr auf ein schweizerisches Pensionat in der Nähe von Lausanne.

Als 17-Jährige und nach Stuttgart zurückgekehrt, richtet Lepman eine internationale Lesestube ein für die Kinder der Arbeiter, die aus anderen Ländern in die Stadt gekommen sind, um dort in der großen »Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik« ihr Geld zu verdienen.

IDEALISMUS Dass sie mit Jella Lepman eine Frau an Bord hatten, die beim geplanten Bildungsprogramm vorrangig auf Bücher setzte, dürfte den Amerikanern also bekannt gewesen sein. In Deutschland angekommen, verlangte Lepman allerdings erst einmal mehr Zeit, um sich von der Lage der Menschen, der Situation der Frauen und Kinder ein Bild machen zu können.

Sie bekam einen Fahrer gestellt, »Joe«, der sie – jetzt mit olivfarbenem »Schiffchen« auf dem Kopf und in schicker Majorsuniform – in seinem Jeep durch die zerbombten deutschen Städte manövrierte. Danach stand Lepmans Ansatz fest: »Lassen Sie uns bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt langsam wieder ins Lot zu bringen«, forderte sie und fügte voller Idealismus und Glaube an die Zukunft hinzu: »Die Kinder werden den Erwachsenen den Weg zeigen.«

Bei der neuen Generation anzufangen, hieß für Jella Lepman, mit Kinderbüchern zu beginnen. »Überhaupt, Kind und Buch, das ist ein Kapitel ganz für sich und eines der schönsten, das wir kennen«, formulierte sie einmal. Und es seien eben nicht nur »Brot und Kleidung«, die den Menschen fehlten, sondern nach Jahren des Krieges und der ideologischen Vergiftung eben auch »Nahrung für den Geist«.

Nach der ideologischen Vergiftung sollte eine neue Generation lernen, eigenständig zu denken.

Jella Lepman wusste, wovon sie sprach. Als starke emanzipierte Frau mit Durchsetzungsvermögen und politischer Bildung wusste sie sich durchzukämpfen. Sie war niemand, der so leicht aufgab. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte sie den um einige Jahre älteren deutsch-amerikanischen Bettenfabrikanten Gustav Horace Lepman geheiratet. Der musste als Offizier bald in den Krieg, kam schwer verwundet zurück. Zwei Kinder werden geboren, erst ein Mädchen, dann ein Junge. 1922 erliegt Gustav seinen Verletzungen, und Jella Lepman steht mit 31 Jahren alleine da, ist wie so viele andere Frauen eine Kriegswitwe, muss sich nach Arbeit umsehen und weiß, dass sie schreiben kann.

EMANZIPATION Sie wird die erste Frau, die als Redakteurin beim »Stuttgarter Neuen Tagblatt« tätig wird, gründet die Beilage »Die Frau in Haus, Beruf und Gesellschaft«, beginnt, für Kinder zu schreiben, und kandidiert als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei 1929 für den Reichstag. Lepman kann sich als eine Frau fühlen, die sich in einer Männergesellschaft behauptet hat, die sich durchgesetzt hat.

Dann kommt das Jahr 1933 und mit ihm Adolf Hitler an die Macht. Lepmans Vertrag bei der Zeitung wird aufgelöst, ab und zu kann sie noch etwas als »Freie« unterbringen, bis auch das zu Ende geht. Eine Schwester Lepmans hat das Land bereits Richtung Amerika verlassen, auch ihr prominenter Cousin, Max Horkheimer, Neffe ihrer Mutter, ist bereits dorthin emigriert. 1936 verlässt auch sie Nazideutschland mit den beiden Kindern. Allerdings wählt sie eine andere Route, reist über Italien nach England – über Florenz nach London.

Der Start in London war holprig. Wer brauchte in London eine Deutsche? Schließlich kommen Tochter und Sohn in einem Internat unter, Jella Lepman denkt wieder übers Schreiben für Kinder nach. 1938 erhält sie schließlich von der Universität Cambridge den Auftrag, den geretteten Nachlass von Arthur Schnitzler zu sichten und zu ordnen. Ein Anfang ist gemacht. Zu einer Zeit, als auf dem Kontinent der Krieg ausbricht.

1938 erhält sie schließlich von der Universität Cambridge den Auftrag, den geretteten Nachlass von Arthur Schnitzler zu sichten und zu ordnen.

Jella Lepman kommt zur BBC, ist dort für Jugendfragen zuständig. Sie wird britische Staatsbürgerin und wechselt 1941 zu den Amerikanern, zur »American Broadcasting Station in Europe« mit Sitz in London, die zusammen mit der BBC gegen Nazi-Propaganda arbeitet. All diese Erfahrungen bringen ihr den Ruf einer Expertin für Kinder- und Jugendliteratur ein – die die Amerikaner 1945 nach Deutschland schicken.

KASINO Dass die Idee einer »Kinderbuchbrücke« gut ist, darüber ist man sich schnell einig. Doch woher sollten die Bücher kommen? Jella Lepman kehrt ins amerikanische Hauptquartier zurück, dieses Mal mit genauen Vorstellungen: Eine Wanderausstellung mit den besten Kinder- und Jugendbüchern der Welt soll den Anfang machen. »Okay«, sagen die Generäle. Eine Finanzierung gibt es für diese großartige Idee nicht.

Lepman, gewohnt, sich gegen alle Widrigkeiten durchzusetzen, startet einen Aufruf, klopft weltweit bei Verlagen an, bittet um Bücherspenden. Die werden in Kisten gepackt und nach Deutschland, nach München, geschickt.

Dort hat es Jella Lepman mittlerweile hinbekommen, in einem trutzigen Nazibau – dem »Haus der Kunst«, das die amerikanischen Offiziere zu dieser Zeit als ihr Kasino nutzen –, Platz zu schaffen.

AUSSTELLUNG Im Sommer 1946 strömen Kinder und Erwachsene in die Kinder- und Jugendbuchausstellung – die erste Ausstellung überhaupt in Deutschland nach dem Krieg. 40.000 sollen es am Ende gewesen sein. Der riesige Erfolg bewirkt, dass sie auf Tournee in weitere deutsche Städte geht: nach Hamburg, Frankfurt, Stuttgart, Hannover, Berlin. 4000 Kinder- und Jugendbücher aus 14 Ländern sind zu bestaunen, daneben auch deutsche Kinderbuch-Klassiker aus vergangenen, fast vergessenen Zeiten, bevor die Nazis an die Macht kamen.

Der Erfolg der Bücherschau motiviert Jella Lepman, weiterzudenken und zu planen. Die Sammlung soll ein ständiges, ein festes Zuhause bekommen, eine »Internationale Jugendbibliothek« (IJB) soll entstehen. In München waren ihre Augen an einer kriegsmaroden Villa mit verwunschenem Garten ganz in der Nähe der Universität hängen geblieben. Sie gehört dem Bayerischen Kultusministerium.

Jella Lepman bekommt die Villa. Das Haus wird hergerichtet, freundlich und einladend – auch dank der tatkräftigen und finanziellen Unterstützung der amerikanischen Rockefeller Foundation und der American Library Association. Am 14. September 1949 steht es dem Publikum, den Kindern, tatsächlich offen.

In der Freihandbibliothek wird seit damals gelesen, geblättert, angeschaut. Aber nicht nur das. Von Anfang an sind auch Theater- und Malkurse – nach amerikanischem Vorbild – im Angebot, ebenso Diskussionsrunden, in denen sich die Kinder in Rhetorik und selbstbestimmtem Denken üben können.

KÄSTNER Bis 1957 leitet Lepman die IJB als Direktorin. Sie hat Förderer wie Erich Kästner an ihrer Seite, den sie übrigens 1949 zu dessen Buch Die Konferenz der Tiere angeregt hat. 1959 geht sie dann fort, verlegt ihren Wohnsitz nach Zürich. Sie engagiert sich weiterhin für das Kinder- und Jugendbuch, übersetzt aus dem Englischen. 1970 stirbt Jella Lepman 79-jährig in ihrer Wohnung in der Schweiz.

Sie war die erste angestellte Redakteurin beim »Stuttgarter Neuen Tagblatt«.

Ihre IJB gibt es bis heute. 1983 ist sie in ein verwunschenes Schloss, die »Blutenburg«, umgezogen, dorthin, wo München im Westen entlang des Flüsschens Würm immer grüner wird. Mit 650.000 Büchern in mehr als 240 Sprachen und aus sechs Jahrhunderten ist sie zur weltweit größten Bibliothek für internationale Kinder- und Jugendliteratur angewachsen. Sie bietet ein breit gefächertes Programm, verleiht Preise, gilt als anerkannte Forschungsstätte im Bereich Kinder- und Jugendliteratur.

Ganz oben, unter dem ausladenden Holzdachgestühl des Schlosses, gibt es einen schönen Jella-Lepman-Saal für Feierlichkeiten. Unten in seinen Kellern und Gewölben lagern Nachlässe von wichtigen Kinderbuchautoren und Illustratoren. Auch der Nachlass von Jella Lepman ist hier untergebracht: in 78 Schachteln. Im Spätsommer wird die IJB 70 Jahre alt. Sie feiert sich und damit auch ihre große Gründerin.

www.ijb.de

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