Porträt der Woche

»Die Gemeinde voranbringen«

Boris Schulman ist Geschäftsmann und engagiert sich ehrenamtlich bei Makkabi

von Gerhard Haase-Hindenberg  03.11.2020 12:51 Uhr

»Ich bin immer dabei, wenn meine Unterstützung für die jüdische Sache gebraucht wird«: Boris Schulman (42) lebt in Frankfurt. Foto: Rafael Herlich

Boris Schulman ist Geschäftsmann und engagiert sich ehrenamtlich bei Makkabi

von Gerhard Haase-Hindenberg  03.11.2020 12:51 Uhr

Ich fühle mich heute sehr viel jüdischer als in meiner Kindheit und Jugend. Normalerweise sagt man ja, das Judentum wird von den Eltern an die Kinder weitergegeben. Bei mir ist es so, dass ich sehr viel näher an der Reli-gion bin, als es meine Eltern jemals waren. Meine Kinder wiederum besuchen hier in Frankfurt die jüdische Schule und bekommen alles sehr viel selbstverständlicher mit, als das bei mir in ihrem Alter der Fall war.

Ich habe nie eine jüdische Schule besucht und war auch nie auf Machane, nur mein Bruder einmal. Meine inzwischen vier Kinder aber verbringen ihre Sommerferien bei den Machanot. In unserer Familie leben wir ein orthodoxes jüdisches Leben, wir begehen alle jüdischen Feiertage, haben sogar eine koschere Küche.

KINDHEIT Ich bin in Czernowitz in der Ukraine geboren und kam 1978 im zarten Alter von einem Jahr mit meinen Eltern nach Berlin. Meine Oma väterlicherseits war schon hier. Sie war zunächst nach Israel gegangen, aber nachdem sie im Zweiten Weltkrieg als Einzige von fünf Geschwistern den Krieg überlebt hat, bekam sie mentale Probleme damit, nun in einem Land zu leben, wo wieder Krieg herrscht. So hat sie sich für Deutschland als neue Heimat entschieden.

Zunächst hatte sie sich in den USA umgeschaut, auch in Frankreich. Schließlich kam meine Oma nach Berlin, wo sie den damaligen Gemeindevorsitzenden Heinz Galinski traf. Er sagte ihr, dass die Bedingungen für Juden in Deutschland sehr günstig seien. Hier würden sie nun gefördert, hier sei es möglich, gemeinsam etwas Neues aufzubauen. Denn eigentlich war es ja nicht nachvollziehbar, dass eine Frau, die im Krieg bereits als 13-Jährige ihre ganze Familie verloren und Schreckliches erlebt hat, ins Land der Täter geht.

Ich lebe orthodox und bin sehr viel näher an der Religion, als es meine Eltern jemals waren.

Meine Familie hatte sich schon in der Ukraine zur Jüdischkeit bekannt. Als ich geheiratet habe, legte meine Mutter eine handschriftlich verfasste Ketuba vor, aus der hervorging, dass sie jüdisch geheiratet hat. Der Rabbiner war darüber sehr erstaunt, weil das ja in den Zeiten der Sowjetunion gar nicht so selbstverständlich war.

BARMIZWA Aufgewachsen bin ich in Berlin-Steglitz in einer Siedlung, die der Jüdischen Gemeinde gehört. Dort sind viele jüdische Auswanderer aus der Sowjetunion untergebracht worden.

Mein Vater war wie alle in seiner Familie Musiker. Er spielte Schlagzeug in einer kleinen russischen Band, vorwiegend bei jüdischen Veranstaltungen in Berlin.

Meine Mutter hat in einem Kaufhaus gearbeitet. Als ich 1984 eingeschult wurde, gab es noch keine jüdische Schule. Also habe ich eine ganz normale Grundschule besucht und anschließend auch das Gymnasium.
Mein emotionaler Einstieg ins Judentum passierte, als ich anfing, für die Barmizwa zu lernen. Das war in der Synagoge Joachimsthaler Straße.

Unser Lehrer war jeden Tag da, die Kinder konnten kommen, wann und so oft sie wollten. Ich war mindestens dreimal in der Woche da, weil mich das alles sehr interessiert hat: die Geschichten in der Tora, die Synagoge und die Menschen dort.

Mein emotionaler Einstieg ins Judentum passierte, als ich anfing, für die Barmizwa zu lernen.

Die Feiertage haben wir zu Hause so begangen, wie es eben die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in der Regel machen. Man hat sich versammelt und zusammen gegessen, aber traditionell gefeiert haben wir nicht.

AUSBILDUNG Nach dem Abitur habe ich mich zum Einzelhandelskaufmann ausbilden lassen. Zunächst war ich in der Firma meines Onkels, der ein Fachgeschäft für Jalousien betrieben hat. Schließlich hat er mir die Möglichkeit gegeben, als Franchisenehmer seines Unternehmens tätig zu werden. In Berlin machte er das selbst, also musste ich anderswo ein Geschäft aufmachen. Ich habe erst eine Filiale in Frankfurt und dann eine zweite in Wiesbaden eröffnet.

Für mich war der Wechsel von Berlin nach Frankfurt eine absolute Umstellung. Ich hatte es mir einfacher vorgestellt. Damals war ich jung und bin dem Erfolg hinterhergerannt und habe nicht darüber nachgedacht, was sonst noch wichtig ist. Plötzlich fand ich mich ganz allein, ohne Familie und Freunde, in dieser fremden Stadt wieder.

In der ersten Zeit hatte ich sehr stark die Tendenz, wieder nach Berlin zurückzugehen. Dann bin ich Freitagabend in die Synagoge gegangen. Und dort habe ich erste Kontakte geknüpft – mit Leuten, mit denen ich bis heute befreundet bin. Sie kamen auf mich zu, fragten, wer ich sei. Und vor allem fragten sie: »Was machst du heute am Schabbes, wo gehst du essen?«

Als ich jung war, bin ich dem Erfolg hinterhergerannt und habe nicht darüber nachgedacht, was sonst noch wichtig ist. Das änderte sich in Frankfurt.

Sie haben mich eingeladen, und wir versammelten uns bei einer jungen Frau, die schon eine eigene Wohnung hatte. Die meisten hatten noch bei ihren Eltern gewohnt. Sie aber wohnte damals fußläufig zur Synagoge, studierte Sozialpädagogik. Heute leitet sie einen der beiden jüdischen Kindergärten in Frankfurt und ist mit mir verheiratet.

VERÄNDERUNG Im Jahr 2007 habe ich die Veränderung gesucht und mich gemeinsam mit einem Freund in der Hotellerie selbstständig gemacht. Wir haben in Frankfurt eine Hotel-Immobilie gepachtet, die eine ganze Weile leergestanden hatte. Die mussten wir renovieren und legten schließlich als Branchenfremde mit einer gesunden Portion an Naivität los, wofür wir auch Lehrgeld bezahlt haben.

Gleich zu Beginn gab es in Frankfurt die Fleischermesse, die nur alle drei Jahre stattfindet. Bei solchen Events werden die Zimmer in der Regel zu sehr hohen Preisen vermietet. Wir hatten exakt zum Anreisetag dieser Messe eröffnet und keine Messepreise aufgerufen. Innerhalb von 30 Minuten hatten wir 60 Zimmer für fünf Tage vermietet – und das für einen Bruchteil dessen, was vergleichbare Hotels in dieser Woche nahmen. Das also war das Lehrgeld.

Irgendwann hatten wir zehn Hotels, und 2012 haben wir alle Pachtverträge an eine israelische Firma verkauft. Das war dann der Zeitpunkt, als ich angefangen habe, in Immobilien zu investieren, ich wurde also vom Pächter zum Verpächter. Im Jahr 2014 habe ich dann auch die beiden Jalousie-Filialen verkauft. Heute verwalte ich meine eigenen Immobilien, die überwiegend wiederum Hotel-Immobilien sind.

Dahinter stand der Wunsch, mehr Zeit für meine Familie zu haben, die zu diesem Zeitpunkt bereits aus meiner Frau und mir sowie drei Töchtern bestand. Außerdem hatte ich jetzt endlich auch Zeit für ehrenamtliche Tätigkeiten.

EHRENAMT Eine davon ist Makkabi. Vor zwei Jahren hat mich Alon Meyer, der Präsident von Makkabi, angesprochen. Wir haben von der Stadt eine Tennisanlage als Pächter übernommen. Hierfür gab es Vertragsverhandlungen, die in meiner Hand lagen, sowohl für die Sportanlage als auch für die Besetzung des Restaurants, das dazugehört. Damit haben wir nun ein zweites koscheres Restaurant in unserer Stadt, wo sehr gute israelische Gerichte angeboten werden.

Neben Makkabi unterstütze ich auch die WIZO und Keren Hayesod.

Auch sonst bin ich in Frankfurt und Umgebung immer dabei, wenn meine Unterstützung im Dienste der jüdischen Sache gebraucht wird, ob das die studentische Organisation ist oder die WIZO oder Keren Hayesod. Außerdem kümmere ich mich um Dinge, die mich als Gemeindemitglied ebenso wie als Vater von inzwischen vier Kindern betreffen. Dazu gehören die jüdische Schule und das Gemeindeleben. So trete ich unter anderem für ein Schuljahr mehr ein. In der jetzigen 9. Klasse haben wir gerade einmal sieben Schüler, bei der Einschulungsstufe waren das noch 84.

Auch in der Gemeinde möchte ich mich mehr einbringen. Vor Kurzem wurde ich in den Frankfurter Gemeinderat gewählt. Ich will daran mitarbeiten, die Gemeinde weiter voranzubringen.

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