Solidarität

»Das ist ein Marathon, kein Sprint«

Awi Blumenfeld, Jenny Havemann, Ayala Goldmann, Marat Schlafstein und Sergey Lagodinsky (v.l.) Foto: Stephan Pramme

Die Bilder vom 7. Oktober, als die Hamas Israel überfiel, haben sich in seinem Kopf eingebrannt. Das sagte Marat Schlafstein bei der Diskussion »Was uns zusammenhält: Die jüdische Gemeinschaft und (ihr) Israel« am Freitag beim Gemeindetag. In dem Moment, als ihm das ganze Ausmaß des Anschlags bewusst geworden ist, sei ihm auch klar geworden, dass seine Kinder in Deutschland nicht anders aufwachsen werden als er selbst.

»Ist Israel noch ein sicherer Hafen?«, fragte Moderatorin Ayala Goldmann. Auf dem Podium saßen außer Schlafstein, dem Referenten für Jugend und Gemeinden des Zentralrats der Juden, Sergey Lagodinsky (grüner Abgeordneter des Europaparlaments), die Unternehmerin und Bloggerin Jenny Havemann sowie Awi Blumenfeld (Historiker und Judaist). Havemann sagte, sie habe sich diese Frage auch gestellt.

»Aber es ist dann doch keine Alternative, nach Deutschland zu emigrieren«, erklärte die Bloggerin, die mit ihrer Familie in Israel lebt. Manche Familien mit kleineren Kindern hätten zwar vorübergehend das Land verlassen. Sie kenne aber niemanden, der dauerhaft weggegangen ist. Sie selbst wolle bleiben und Israel beschützen. »Wir sind alle gefordert«, betonte auch Awi Blumenfeld. Alle Juden sähen nun, vor welcher Aufgabe sie stünden.

150.000 Euro Spenden für Israel

Der Zentralrat konnte dank eines Spendenaufrufs, der mehr als 150.000 Euro einbrachte, Israel finanziell unterstützen, berichtete Schlafstein. »Aber was machen wir, damit wir hier bleiben können?« Er glaube nach wie vor, dass jüdisches Leben in Deutschland eine Zukunft hat. Viele junge Juden hätten sich vor dem 7. Oktober nicht sehr stark für Israel engagiert, was sich inzwischen geändert habe. »Jetzt positionieren sie sich klar zu Israel, und das Land ist nun für sie viel mehr als nur ein Urlaubsort.«

Awi Blumenfeld vermisst die Demonstranten, die massenhaft auf die Straße gingen, als die Ukraine angegriffen wurde. »Wir sind so wenige, zu den Solidaritätsdemos stehen nicht so viele auf.« Den »Wettstreit der Massendemos werden wir nicht gewinnen«, erkannte auch Sergey Lagodinsky. In der jetzigen Situation seien »Bildung, Haltung und Strafverfolgung« wichtig. Das Selbstverteidigungsrecht Israels werde von anderen Ländern infrage gestellt.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sei für die Juden ein Glücksfall gewesen, da es kaum Pogrome gab: »Nun ist die Realität der Pogrome wiederhergestellt.« Die Welt sei seit Jahrtausenden daran gewohnt, dass Juden »abgeschlachtet« würden, so der Politiker. Doch jetzt verteidigten sie sich. Für diese Aussage gab es Applaus aus dem Publikum. Es sei ein Glück, dass die meisten deutschen Politiker eine klare Haltung bezögen, meinte Lagodinsky. Und Blumenfeld erinnerte daran, dass aufgrund von Protesten immerhin Zahlungen an die Hamas gestoppt werden konnten.

»In der jüdischen Bubble sind wir alle einer Meinung, aber wir müssen auch sehen, was hier in der jüngeren Generation los ist«, sagte Havemann. Sie erhalte auf Social Media täglich Hasskommentare. Speziell an den Schulen müsse etwas passieren. Auch deshalb engagiere sie sich bei Lehrerfortbildungen in Schleswig-Holstein. Viele Schulen wollen etwas gegen Antisemitismus tun, betonte Schlafstein. Das Programm »Meet a Jew« des Zentralrats und andere Organisationen erhielten so viele Anfragen wie noch nie. Doch die Herausforderungen seien nicht in kurzer Zeit zu bewältigen: »Das ist ein Marathon, kein Sprint.«

Auszeichnung

Die Frau mit den Blumen

Zwei Jahre lang ging Karoline Preisler auf anti-israelische Demonstrationen, um auf das Schicksal der Geiseln aufmerksam zu machen. Jetzt erhält sie den Paul-Spiegel-Preis des Zentralrats der Juden

von Michael Thaidigsmann  30.10.2025

Nachruf

Gestalter mit Weitblick

Für Jacques Marx war die Gemeindearbeit eine Lebensaufgabe. Eine persönliche Erinnerung an den langjährigen ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen

von Michael Rubinstein  30.10.2025

Ehrung

Demokratiepreis für Graphic Novel über Schoa-Überlebende

Die Schoa-Überlebenden Emmie Arbel gewährte Zeichnerin Barbara Yelin vier Jahre lang Einblicke in ihr Leben

 30.10.2025

Interview

»Wir hatten keine Verwandten«

Erst seit einigen Jahren spricht sie über ihre jüdischen Wurzeln: Bildungsministerin Karin Prien erzählt, warum ihre Mutter davon abriet und wann sie ihre eigene Familiengeschichte erst begriff

von Julia Kilian  30.10.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 29.10.2025

Schwielowsee

Shlomo Afanasev ist erster orthodoxer Militärrabbiner für Berlin und Brandenburg

Militärrabbiner gibt es bereits in Deutschland. Nun steigt der erste orthodoxe Rabbiner bei der Bundeswehr in Brandenburg ein

 29.10.2025

Essay

Vorsichtig nach vorn blicken?

Zwei Jahre lang fühlte sich unsere Autorin, als lebte sie in einem Vakuum. Nun fragt sie sich, wie eine Annäherung an Menschen gelingen kann, die ihr fremd geworden sind

von Shelly Meyer  26.10.2025

Stuttgart

Whisky, Workshop, Wirklichkeit

In wenigen Tagen beginnen in der baden-württembergischen Landeshauptstadt die Jüdischen Kulturwochen. Das Programm soll vor allem junge Menschen ansprechen

von Anja Bochtler  26.10.2025

Porträt

Doppeltes Zuhause

Sören Simonsohn hat Alija gemacht – ist aber nach wie vor Basketballtrainer in Berlin

von Matthias Messmer  26.10.2025