Ich wäre gern eine Sonnenblume. Eine Sonnenblume, die friedlich Seite an Seite mit ihren Artgenossen lebt, sich immer dem Licht zuwendet, ihre Schönheit und ihre Frucht der Allgemeinheit schenkt, um am Ende ihres Lebens dankbar und zufrieden ihren schweren Kopf zu senken … Eine Vorstellung, bei der ich tief durchatme.
Ich gehöre aber einer anderen Gattung an. Dieser grauenvollen Spezies Mensch, die ihre Artgenossen verachtet, missbraucht und bekriegt.
Dabei soll das Menschsein doch etwas so Erstrebenswertes, das höchste Maß göttlicher Schöpfung sein. So heißt es: »Sei ein Mensch!« Ein wunderbarer Satz, der moralische und ethische Reinheit von uns fordert. Der impliziert, dass ein Mensch zu sein, etwas Gutes, etwas Erhabenes sei. Fast wie ein Märchenwesen, das am Ende, weil es so gut und anständig gehandelt hat, natürlich gegen das Böse gewinnt und bis ans Ende aller Tage glücklich sein wird.
Die moralisch höchste Stufe unseres Seins
Ein Mensch zu sein, so scheint es, ist die moralisch höchste Stufe unseres Seins. Daran glauben wir insbesondere dann, wenn den Satz »Sei ein Mensch« diejenigen aussprechen, die das schlimmste aller menschlichen Abgründe gesehen, am eigenen Leib erfahren, es überlebt haben und dennoch auf der Seite des Guten geblieben sind.
Schoa-Überlebende, die keinen Groll gegen ihre Peiniger hegen – Menschen, die nicht neiden, nicht hassen, nicht verachten, nicht nachtragen, nicht vorwerfen, sondern verzeihen und trotz allem weiterleben können. Das sind offenbar die wahren Menschen.
Übermenschliche Menschen. Aber was bin dann ich? Ich, die ich nicht so frei von »Schlechtem« bin? Mich bei moralisch niederen Gedanken, Wünschen oder gar unehrenhaften Taten ertappe? Bin ich vielleicht erst auf dem Weg zum sogenannten Menschsein? Befinde ich mich, mit vielen anderen, auf einer Art Vorstufe? Gilt bei uns vielleicht die kabbalistische Idee, dass unsere Seelen so oft wiedergeboren werden, bis wir die höchste Stufe der Menschlichkeit erklommen und eigene Fehler wiedergutgemacht haben?
Wir lachten und weinten gleichzeitig. Wie so oft in jüdischen Leben.
Nach dem viel zu frühen Tod meines Vaters versuchte ich, meine Mutter, meinen Bruder und mich mit dem Gedanken zu trösten, dass er schon alle Stufen des Guten erklommen, seine Aufgaben erfüllt habe und deshalb so jung habe gehen müssen. Meine Mutter antwortete darauf in Tränen zynisch: »Na, dann habe ich noch viele Jahre und einige Leben vor mir.« Wir lachten und weinten gleichzeitig. Wie so oft in jüdischen Leben.
»Sei ein Mensch« – Ist das wirklich das höchste Ziel? Oder rennen wir einem Ideal hinterher, das uns Hoffnung schenken und ablenken soll von dem Abschaum derer, die auch zur menschlichen Spezies gehören? Denjenigen, denen ich die sechs Buchstaben nicht zuordnen, von denen ich mich distanzieren und ihnen zurufen möchte: »Ich bin keine von euch! Ihr seid Monster! Dreck! Ungeheuer! Bestien!« Wenn ich von Menschen höre, die ausgrenzen, verachten, schlagen, quälen, misshandeln, vergewaltigen, morden, entmenschlichen, ihren wehrlosen Mitmenschen Unaussprechliches antun, dann möchte ich nicht dazugehören.
Ein verglühender Funke Hoffnung auf Veränderung
Wieso ist es erstrebenswert, ein Mensch zu sein, wenn kein anderes Lebewesen so niederträchtig, so abgrundtief schlecht ist, wie das, zu dem ich gehöre? »Sei ein Mensch!« ist ein hilfloser Ruf, ein verglühender Funke Hoffnung auf Veränderung, ein unhörbarer Apell weniger an so unendlich viele.
Ich wäre gern eine Sonnenblume, die sich nicht rechtfertigen, verteidigen oder verstecken muss. Die ihr Leben lang ihren Blick zur Sonne richtet und niemals Furcht vor ihren Nachbarn hat. Wäre das nicht so viel schöner?
Doch dann könnte ich nur vom Feld oder einer Vase aus diejenigen beobachten, die hoffen und ans Menschsein appellieren. Könnte nur zusehen, wie sie sich umarmen, trösten, gegenseitig helfen, Verantwortung für Schwächere übernehmen, sie verteidigen, mit ihnen teilen, fühlen, miteinander lachen, sich lieben oder gemeinsam Sonnenblumen gießen.
»Sei ein Mensch!« heißt offenbar, nie die Hoffnung zu verlieren, stets an das Gute zu glauben und niemals sein Herz zu verschließen. Ganz so, wie die Bedeutung des Wortes »Mentsch« im Jiddischen, die mir meine Oma bis zu ihrem Tod vorgelebt hat: Güte, Respekt, Empathie, Hilfsbereitschaft und Aufrichtigkeit. Ich schätze, auch ich habe noch einige Leben vor mir … und die möchte ich nutzen.
Die Autorin lebt in Frankfurt am Main. Zuletzt erschien von ihr »Der Rabbiner ohne Schuh. Kuriositäten aus meinem fast koscheren Leben«.