Pessach

Chametz für Blaumeisen

»Jetzt streuen wir eine Keksspur bis zu unserem Haus«, schlägt Nuria vor. »Die picken die Vögel dann auf, fliegen übers Hausdach und finden unseren Baum.« Foto: Getty Images

Pessach

Chametz für Blaumeisen

Nuria lässt sich von Corona das Fest nicht verderben – vor dem Seder füttert sie Vögel mit Kekskrümeln

von Eva Lezzi  26.03.2021 08:52 Uhr

Computer aus und raus! Das Homeschooling ist zum Glück vorbei, die Ferien haben begonnen! »Halt, stopp!«, rufen Mama und Papa, die beim Geräusch der Wohnungstür von ihren Laptops hochschrecken.

»Aber ich geh’ doch nur auf den Hof«, antwortet Nuria. »So wie immer.« Alleine zum Spielplatz darf sie noch nicht, und überhaupt, besonders toll werden die Ferien nicht sein. Die Woche Bauernhof mit Oma ist abgesagt, genau wie letztes Jahr. Als Grund dafür gibt es zwei doofe Worte – eines, das Nuria nicht mehr hören kann, und eines, das sich kaum aussprechen lässt: »Corona« und »Hygienekonzept«.

»Du sollst doch vor dem Rausgehen dein Zimmer aufräumen und alles Chametz wegschaffen«, ruft Mama aus der Küche, in der sie sich ein Büro eingerichtet hat. »Morgen fängt Pessach an.«

SCHREIBTISCH »Chametz, in meinem Zimmer? Kann gar nicht sein«, denkt Nuria, während sie die Schuhe murrend wieder auszieht. Aber schon an der Türschwelle sieht sie den nur halb gegessenen Schoko-Muffin auf ihrem Schreibtisch. Nuria wischt die Muffin-Krümel vom Matheheft und schiebt die Schulhefte auf einen Stapel. Dabei entdeckt sie einen lange vermissten Comic. Ab auf den Sitzsack mit Comic und Muffin. Chametz auffuttern – eine wichtige Aufgabe!

Später hilft Papa beim Aufräumen und Staubsaugen. Sie finden noch eine Packung Leibniz-Kekse, zwei Schokoriegel mit knuspriger Waffel und eine angebrochene Tüte Chips. »Die Chips sind zwar kein Chametz, aber gehören trotzdem in den Müll«, bestimmt Papa.

Auf dem Hof wartet Anton schon ganz ungeduldig. Anton ist zwei Jahre jünger als Nuria und geht noch gar nicht zur Schule. Eigentlich ist er viel zu klein für sie, fast noch ein Baby, aber zu Corona-Zeiten ist es besser, einen Anton zum Spielen zu haben als gar niemanden. Gemeinsam futtern sie die Chips und die beiden Schokoriegel. Mehr schafft Nuria beim besten Willen nicht, und auch Anton ist nach einem zusätzlichen Keks pappsatt.

getreide »Wieso musst du die alle aufessen?«, will Anton wissen, und Nuria versucht ihm zu erklären, warum Juden an Pessach kein Getreide im Haus haben dürfen. Gar nicht so einfach, einem fünfjährigen Knirps verständlich zu machen, dass die Juden vor 3000 Jahren aus Ägypten flüchten mussten und nur ungesäuerte Brote mitnehmen konnten. Sowieso hört Anton nicht richtig zu.

»Wir streuen die Kekse für die Vögel«, schlägt er plötzlich vor. Anton träumt schon lange von einem Haustier. Am liebsten hätte er einen Hund, aber bis jetzt hat er noch nicht einmal einen klitzekleinen Hamster bekommen. Die beiden streuen ein paar Kekskrümel um die große Linde in der Mitte vom Hof, aber kein Vogel kommt angeflogen.

»Wir locken sie aus dem Park«, schlägt Nuria vor, und Anton bekommt riesengroße, tellerrunde Augen. »Aber wie denn? Wir dürfen doch nicht vom Hof.« »Der Park ist nicht weit. Komm schon: Abenteuer! Keiner wird es merken.« Anton springt auf. Draußen vor dem Haus nimmt er Nurias Hand. Irgendwie ist es doch süß, so einen Anton zu haben, fast wie ein kleiner Bruder.

PARK Gleich am Parkeingang gibt es diesen großen Busch, in dem die Spatzen immer laut zwitschern, zirpen und tschilpen. Nuria und Anton streuen zerbröselten Keks unter den Busch. Wie wild stürzen sich die Spatzen drauf. Ein besonders frecher hüpft Nuria sogar auf die ausgestreckte Hand und flattert mit seiner Beute rasch weg. Auch ein paar Blaumeisen sind unter den Vögeln, Nuria erkennt sie an ihrem blauen Köpfchen und dem leuchtend gelben Bauch. Voll schön!

»Jetzt streuen wir eine Keksspur bis zu unserem Haus«, schlägt Nuria vor. »Die picken die Vögel dann auf, fliegen übers Hausdach und finden unseren Baum.«

Anton ist begeistert: »Genau wie Hänsel und Gretel! Waren das auch Juden?« »Bestimmt«, lacht Nuria. Auf dem Nachhauseweg schauen die beiden Kinder immer wieder hinter sich, aber keine Vögel folgen der leckeren Spur. »Vielleicht später«, tröstet Nuria den enttäuschten Anton.

überraschung Auf dem Hof erwartet die beiden eine böse Überraschung, nämlich viele aufgeregte Erwachsene. Antons Mutter nimmt ihren Sohn in die Arme. »Da bist du ja«, ruft sie und weint fast vor Erleichterung. Doch dann fängt auch sie an zu schimpfen, genau wie Nurias Eltern: »Wo wart ihr? Ihr wisst doch, dass ihr nicht alleine vom Hof dürft! Wir haben uns solche Sorgen gemacht!«

Drei aufgeregt durcheinander fragende Eltern, und keiner hört zu, was die Kinder antworten. Nur der alte Herr Kohlhammer, der im Parterre wohnt, versteht ihre Geschichte. »Ich habe eine Idee!«, mischt er sich plötzlich ein. Herr Kohlhammer schlurft in seine Wohnung und kommt nach einer Weile mit einem runden Holzkasten wieder.

Ein Nistplatz für Meisen! »Wozu bin ich schließlich geimpft?«, murmelt Herr Kohlhammer und schickt die anderen Erwachsenen in ihre Wohnungen zurück. Gemeinsam mit den Kindern säubert und repariert er den Nistkasten. Dann holen sie aus seinem Keller eine große Klappleiter, die sie vor dem Baum aufstellen. Nuria soll hochsteigen, findet Herr Kohlhammer, ihm würde zu schnell schwindelig.

Neun Sprossen klettert Nuria hoch, stellt sich oben etwas wackelig auf das kleine Podest, streckt ihren Arm lang und schlägt mit einem Hammer einen fetten Nagel in den Baum. Das Nisthäuschen soll so hoch wie möglich hängen! Anton klatscht in die Hände.

SCHOKOEIER Zehn Tage später, am letzten Tag von Pessach, sitzen Anton und Nuria mal wieder gemeinsam in ihrem Hof. Anton hat sein Osterkörbchen mit den Schokoeiern mitgebracht. Beide wickeln Eier aus dem bunt gepunkteten Stanniolpapier. »Warum esst ihr an Ostern eigentlich Schokoeier?«, fragt Nuria.

Anton schaut Nuria mit großen runden Augen an und runzelt die Stirn. Nach langem Nachdenken antwortet er: »Vielleicht, weil sie so lecker sind?« Dann zeigt Anton auf eine Blaumeise, die mit zwei Grashalmen im Schnabel angeflogen kommt. »Schau mal, Nuria!«, ruft er aufgeregt. »Sie bauen ihr Nest.«

Die Autorin ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Zuletzt erschien ihr Jugendbuch »Kalter Hund«.

Geburtstag

Ins Leben zurückgekämpft

Der Holocaust-Überlebende Leon Weintraub wird am Neujahrstag 100 Jahre alt

von Gabriele Ingenthron  31.12.2025

Programm

Götter, Märchen und Le Chaim: Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 31. Dezember bis zum 13. Januar

 31.12.2025

Immobilie

Das jüdische Monbijou

Deutschlands derzeit teuerste Villa auf dem Markt steht auf Schwanenwerder und soll 80 Millionen Euro kosten. Hinter dem Anwesen verbirgt sich eine wechselvolle Geschichte

von Ralf Balke  28.12.2025

Geburtstag

»Der Tod war etwas Gegebenes«

Der Holocaust-Überlebende Leon Weintraub wird am 1. Januar 100 Jahre alt

von Gabriele Ingenthron  28.12.2025

Dating

Auf Partnersuche

Matchmaking mit Olami Germany – ein Ortsbesuch

von Jan Feldmann  23.12.2025

München

Ein kraftvolles Statement

Beim Gemeindewochenende nahmen zahlreiche Mitglieder an Diskussionen, Workshops und Chanukka-Feierlichkeiten teil

von Esther Martel  23.12.2025

Erfurt

Die Menschen halfen einander

Pepi Ritzmann über ihre Kindheit in der Gemeinde, ihre Familie und Antisemitismus. Ein Besuch vor Ort

von Blanka Weber  22.12.2025

Didaktik

Etwas weniger einseitig

Das Israel-Bild in deutschen Schulbüchern hat sich seit 2015 leicht verbessert. Doch der 7. Oktober bringt neue Herausforderungen

von Geneviève Hesse  22.12.2025

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

WerteInitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 24.12.2025 Aktualisiert