»Musik im Dialog«

Brücken der Versöhnung

IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch Foto: Marina Maisel

»Musik im Dialog«

Brücken der Versöhnung

Zeitzeugengespräche und ein Konzert thematisierten das Trauma der Leningrader Blockade

von Ellen Presser  19.10.2019 23:00 Uhr

Eine ziemliche Herausforderung hatte Andreas Bönte, stellvertretender Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks, am Donnerstag der vorvergangenen Woche zu meistern. Unter dem Motto »Musik im Dialog« sollte er das traumabesetzte Thema »75 Jahre Leningrader Blockade« mit zwei Zeitzeugen des gleichen Jahrgangs, die auf sehr unterschiedliche Weise unter den Auswirkungen der NS-Zeit gelitten haben, erörtern.

Beide Gesprächspartner sind zwar keine Historiker, aber Persönlichkeiten, die in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern Geschichte geschrieben haben. Und das Thema Musik durfte dabei auch nicht zu kurz kommen.

DP-Kinder Um es vorwegzunehmen, die praktische Umsetzung glückte hervorragend – sehr zur Freude der Organisatorin Doris M. Pospischil, die schon im Jahr 2018 die Künstlerin Anne-Sophie Mutter in St. Ottilien präsentieren konnte, wo zwischen 1945 und 1948 mehr als 400 jüdische DP-Kinder geboren wurden. Mit ihrem Verein »Kultur am Ammersee e.V.« stellte sie dem diesjährigen Konzert mit dem Tschaikowsky Symphonieorchester unter Leitung von Vladimir Fedoseyev einen Abend im Jüdischen Gemeindezentrum voran, umrahmt von einem Quartett.

Hier sollte der Dirigent Fedoseyev, bekennender Tschaikowsky-Fan, statt Musik Worte finden für das, was seine Kindheit überschattete. Er tat dies auf Russisch, konsekutiv übersetzt für das teilweise nicht russischsprachige Publikum.

Auch Charlotte Knobloch, geborene Neuland, seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, stand vor der emotional schwierigen Aufgabe, sich an ihre Kindheit zu erinnern.

Im Jahr 1941 waren beide Zeitzeugen neun Jahre alt.

lebensmut Im Jahr 1941 waren beide Zeitzeugen neun Jahre alt. Fedoseyev blieb zu Hause. Jeder Tag während der Blockade war ein Kampf um Essen und Trinken. Es war lebensgefährlich, zumal für ein Kind, sich draußen aufzuhalten. »Menschen verschwanden«, erklärte der Dirigent, dessen erstes Instrument das väterliche Akkordeon war. Mit ihm trat er später im Lazarett auf, wo er schwer verwundeten Soldaten durch seine Musik den Lebensmut zurückgeben wollte.

Zu diesem Zeitpunkt war die kleine Charlotte dank ihres Vaters mit falscher Identität bereits auf einem fränkischen Bauernhof untergetaucht. Dort hörte sie regelmäßig Radio und verstand, dass die »Freigabe« Leningrads eine deutsche Niederlage bedeutete.

Nach München zurückkehren wollte sie nach der Befreiung jedoch nicht. Die Vorstellung, den Menschen, die sie wenige Jahre zuvor mit Hass und Beleidigungen überzogen hatten, wiederzubegegnen, erschien ihr unerträglich.

befreiung Fedoseyev, seit mehr als 40 Jahren Chefdirigent des Moskauer Symphonieorchesters und musikalisch in der ganzen Welt unterwegs, erinnert sich, dass selbst während der Leningrader Blockade, die über eine Million Menschen das Leben kostete, ein vielfältiges Kulturleben stattfand. Und Charlotte Knobloch, die Beethovens 9. Sinfonie liebt, ergänzte dies mit einem Hinweis auf den Neubeginn nach der Auflösung der Konzentrationslager, als Überlebende unmittelbar nach der Befreiung Konzerte und Theaterdarbietungen organisierten.

Einen besonderen kulturellen Impuls habe das jüdische Gemeindeleben ab den 90er-Jahren durch die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion erhalten. So gebe es gleich mehrere Chöre. Der Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle war auf diesen Aspekt in seinem Grußwort bereits zu Beginn des Abends eingegangen: »In der Sprache der Musik werden Zeichen der Versöhnung gesetzt.«

Justiz

Anklage wegen Hausverbots für Juden in Flensburg erhoben

Ein Ladeninhaber in Flensburg soll mit einem Aushang zum Hass gegen jüdische Menschen aufgestachelt haben. Ein Schild in seinem Schaufenster enthielt den Satz »Juden haben hier Hausverbot«

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025

Hessen

Margot Friedländer erhält posthum die Wilhelm-Leuschner-Medaille

Die Zeitzeugin Margot Friedländer erhält posthum die höchste Auszeichnung des Landes Hessen. Sie war eine der wichtigsten Stimme in der deutschen Erinnerungskultur

 12.11.2025

Berlin

Touro University vergibt erstmals »Seid Menschen«-Stipendium

Die Touro University Berlin erinnert mit einem neu geschaffenen Stipendium an die Schoa-Überlebende Margot Friedländer

 12.11.2025

Jubiläum

»Eine Zierde der Stadt«: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in Berlin eröffnet

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin eingeweiht. Am Dienstag würdigt dies ein Festakt

von Gregor Krumpholz, Nina Schmedding  11.11.2025

Vertrag

Jüdische Gemeinde Frankfurt erhält mehr Gelder

Die Zuwendungen durch die Mainmetropole sollen bis 2031 auf 8,2 Millionen Euro steigen

von Ralf Balke  11.11.2025

Berlin

Ein streitbarer Intellektueller

Der Erziehungswissenschaftler, Philosoph und Publizist Micha Brumlik ist im Alter von 78 Jahren gestorben. Ein persönlicher Nachruf

von Julius H. Schoeps  11.11.2025

Hannover

Ministerium erinnert an 1938 zerstörte Synagoge

Die 1938 zerstörte Neue Synagoge war einst mit 1.100 Plätzen das Zentrum des jüdischen Lebens in Hannover. Heute befindet sich an dem Ort das niedersächsische Wissenschaftsministerium, das nun mit Stelen an die Geschichte des Ortes erinnert

 10.11.2025

Chidon Hatanach

»Wie schreibt man noch mal ›Kikayon‹?«

Keren Lisowski hat die deutsche Runde des Bibelquiz gewonnen. Jetzt träumt sie vom Finale in Israel

von Mascha Malburg  10.11.2025