Ausstellung

Bitte nicht umblättern!

Auf den ersten Blick scheinen die Bücher zu schweben: 50 Bände, die aufgeschlagenen Seiten zur Decke gerichtet, stecken in einer luftigen Konstruktion aus durchsichtigen Strohhalmen, wie Vögel aus Papier. Je weiter man sich von der Installation »Migrating Books« entfernt, umso stärker wird dieser Eindruck – sie wirkt wie das Standbild eines literarischen Vogelschwarms, der auf den Betrachter zufliegt.

Mit den wandernden Büchern schaffen der Schriftsteller und Filmemacher Ron Segal und die beiden Architekten Kawahara Tatsuya und Ellen Kristina Krause einen künstlerischen Zirkelschluss der Geschichte, der seinen Anfang am Berliner Bebelplatz nahm. Dort befindet sich, nur durch eine dicke Glasplatte im Boden zu betrachten, das Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933. Geschaffen von dem israelischen Künstler Micha Ullman symbolisieren lange leere Regale die rund 20.000 Bücher, die die Nationalsozialisten auf dem Platz in Flammen aufgehen ließen.

mahnmal Eigentlich ist das unterirdische Mahnmal nicht betretbar. Für eine Gruppe von Stipendiaten der Jungen Akademie, die zur Berliner Akademie der Künste gehört, wurde jedoch – mit der Fürsprache Ullmans – eine Ausnahme gemacht. Ron Segal, selbst einer der Stipendiaten, hatte den Besuch initiiert und dafür Kontakt zu dem Künstler aufgenommen. Die Begegnung mit Ullman wurde ebenso wie das Denkmal selbst zur Inspiration für das Projekt »Migrating Books« (Bücher auf Wanderschaft), das er gemeinsam mit Kawahara Tatsuya realisierte, ebenfalls Stipendiat der Jungen Akademie.

Das Jahr 2015 spielt für die Installation eine wichtige Rolle, wird doch nicht nur zum 70. Mal an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert, sondern auch an das 50-jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. In den vergangenen Jahrzehnten sind viele Bücher vom Deutschen ins Hebräische übersetzt worden und umgekehrt.

»Deren Zahl würde wahrscheinlich mehrere Mahnmale füllen«, erklärt Segal. Insofern gebe es tatsächlich zwischen den beiden Ländern »wandernde Bücher«. 50 der in Israel erschienenen und ins Deutsche übersetzten Bücher wählte er gemeinsam mit seinen Projektpartnern für die künstlerisch-literarische Installation aus.

auswahl Segal ist es dabei wichtig, dass die Auswahl sehr »eklektisch« und keine offizielle Bestandsaufnahme israelischer Literatur ist: »Es sind vor allem Bücher, die wir mögen.« Ein weiteres Kriterium ergab sich aus der luftigen Konstruktion aus Strohhalmen und Plastiksteckverbindungen: Die Bände durften nicht zu schwer sein.

So ist die Tora zwar Teil der »Migrating Books« geworden, nicht aber die umfangreichere Mischna. Stattdessen finden sich unter den schwebenden Büchern etwa ein Gedichtband von Natan Zach, Kurzgeschichten von Amos Oz oder Jeder Tag wie heute, der viel gelobte Debütroman von Segal selbst.

Der gebürtige Israeli lebt derzeit in Berlin und arbeitet an einem Animationsfilm, der auf seinem Erstling beruht. Der Wechsel zwischen verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen ist dem 35-Jährigen also durchaus vertraut. Und doch war »Migrating Books« auch für ihn eine Premiere:
»Zum ersten Mal habe ich mit Architekten zusammengearbeitet und umgekehrt.« Die Zusammenarbeit ist dabei mehr als passend, stellt die Installation doch einen Treffpunkt von Literatur und Architektur dar.

aufbau Einen Tag vor der Eröffnung der Werkschau »Agora Artes«, bei der das Projekt zum ersten Mal öffentlich gezeigt wird, sind beide Seiten beim Aufbau gefragt: Äußerst behutsam und mit genauem Augenmaß stecken Segal, Tatsuya und Krause die durchsichtigen Halme in die sternförmigen Steckverbindungen und schaffen so das fragile Gerüst für die Bücher. Dort, wo die Bände ihren Platz finden, wurden die Halme mit Acrylstäben verstärkt.

»Wir als Architekten sind besonders am Raum interessiert – je nachdem, wo man steht, sieht die Installation immer anders aus«, erklärt Ellen Krause. Grob bildet diese ein Dreieck. Die sich ausweitende Form soll zeigen, dass sich auch die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel ausgeweitet haben. Diese Ausweitung sei dabei nicht auf den literarischen Austausch beschränkt: Immer mehr Israelis ziehe es nach Berlin, während umgekehrt viele Deutsche nach Israel reisten.

Insgesamt ist den dreien aber wichtig, dass »Migrating Books« nicht allzu pädagogisch gemeint ist. Jeder Betrachter soll selbst Geschichten entdecken – und das durchaus im wörtlichen Sinne: Die Bücher sind scheinbar willkürlich aufgeschlagen. Wandert man durch die Installation, bilden die aufgenommenen Textfragmente fast schon wieder eine eigene Erzählung.

verbindung Einen optischen Kontrapunkt zu der grazilen Konstruktion setzt eine massive Glasplatte, die an der Spitze des Dreiecks auf dem Boden liegt. Sie stammt vom Denkmal auf dem Bebelplatz. Zwei bis drei Mal im Jahr muss die Platte über den leeren Regalen Ullmans erneuert werden. »Je mehr Besucher das Mahnmal sehen wollen, umso undurchsichtiger wird das Glas«, erklärt Segal. Mit der Scheibe, die eine Vierteltonne wiegt, wird der Bezug zum Ausgangspunkt deutlich.

»Das Mahnmal zeigt Regale ohne Bücher, während wir Bücher ohne Regale zeigen«, sagt Segal. Ein Video unter der Platte macht die Verbindung noch klarer. In ihm ist zu sehen, wie das Glas über dem Denkmal ausgetauscht wird.

Fast eine Woche haben die drei Künstler mit dem Aufbau der Bücher-Kunst verbracht. Umso nervöser fieberten sie der Eröffnung entgegen. Seit Ende Mai wird die Installation, zusammen mit den Arbeiten der anderen Stipendiaten, der Öffentlichkeit gezeigt. Tatsächlich rief das Werk bei der Eröffnung zweierlei Reaktionen hervor.

reaktionen »Es sieht wirklich sehr schön aus, aber ich traue mich gar nicht heran«, kommentiert etwa eine Besucherin stellvertretend für die Gruppe der Betrachter, die vorsichtig Abstand hält. Andere Besucher hingegen nutzen die Installation für gefährlich nahe Selbstaufnahmen oder versuchen gar, in den schwebenden Büchern zu blättern – eine Annäherung, die Architekt Tatsuya schleunigst unterbindet.

Ron Segal kommentiert: »Ich fühle mich ein wenig wie die Struktur – einerseits stabil, andererseits weiß man nicht, was noch passiert.« Tatsächlich sei es allerdings ein gutes Zeichen, dass so viele Menschen umblättern wollten: »Das heißt doch, dass unsere Installation Spannung aufbaut.«

Jener Spannung können Besucher bis Anfang Juni nachspüren. Danach sollen die »Wandernden Bücher« selbst auf Wanderschaft gehen. Segal, Tatsuya und Krause sind derzeit noch auf der Suche nach weiteren Ausstellungsorten wie etwa Buchmessen oder Museen. Vor allem aber planen sie, die schwebenden Bücher auch in Israel zu zeigen – dann mit den Werken deutscher Autoren, die ins Hebräische übersetzt wurden.

Die Ausstellung »Migrating Books« (Bücher auf Wanderschaft) ist noch bis zum 7. Juni in der Akademie der Künste zu sehen.

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