Geburtstag

Beherzter Macher

Vielfach ausgezeichnet und geehrt: Rabbiner Henry G. Brandt Foto: Gregor Zielke

Geburtstag

Beherzter Macher

Henry G. Brandt wird am 25. September 90 Jahre alt – eine persönliche Würdigung

von Rabbinerin Elisa Klapheck  18.09.2017 10:57 Uhr

Mitte der 90er-Jahre habe ich Rabbiner Henry Brandt bei einer Tagung des wieder entstehenden liberalen Judentums kennengelernt. Unter der Überschrift »Erneuerung im Judentum« trafen sich damals Jüdinnen und Juden aus verschiedenen Städten in der Evangelischen Akademie Arnoldshain und diskutierten über die Möglichkeit eines neuen Aufbruchs. Für mich sollte es einer der wichtigsten Momente meines Lebens werden.

Während des Schabbatgottesdienstes las ich zum ersten Mal aus der Tora vor. Viele waren bewegt, eine Frau in Tallit auf der Bima zu sehen. Im Anschluss kam Rabbi Brandt auf mich zu und sagte: »Hier ist wohl gerade eine Rabbinerin geboren!« Ich war verblüfft – ich und Rabbinerin?! Im Rückblick hatte mich sein Satz in genau diese Richtung geschubst.

Beit Din Bei demselben Treffen lernte ich Brandt aber auch als Realpolitiker kennen. In der Abschlussdiskussion machte er klar, dass er zwar bereit sei, eine aktive Rolle in der neuen Bewegung zu spielen. Die Bedingung sei jedoch, dass ein liberales Beit Din gegründet werden soll. Manche im Raum verstanden noch nicht, warum der neue Aufbruch gleich schon eine institutionelle Zielvorgabe haben musste. Brandts Vorstellung sollte sich jedoch verwirklichen. 2005 wurde die Allgemeine Rabbinerkonferenz (ARK) mit einem eigenen Bet Din gegründet. Bis heute ist Brandt ihr Vorsitzender.

Und das ist nur eine der großen Lebensleistungen, auf die Rabbiner Brandt heute mehr als stolz sein kann. Seit Mitte der 80er-Jahre ist er eine maßgebliche Stimme im jüdisch-christlichen Dialog und erhielt dafür viele Ehrungen, darunter das Bundesverienstkreuz oder die Ehrendoktorwürde und -bürgerschaft der Stadt Augsburg.

Die Bedeutung des Dialogs mit anderen Religionen wird im jüdischen Leben oft unterschätzt. Beim traditionellen jährlichen Treffen der Rabbiner mit den Bischöfen, das Brandt mit ins Leben gerufen hat, kann man erleben, wie er von den jüdischen Kollegen den vollen Respekt gegenüber der christlichen Seite einfordert. Auch in der Kontroverse um die Karfreitagsfürbitte für die Juden, als führende Vertreter des jüdischen Lebens ihre Teilnahme am Katholikentag absagten, hielt Brandt am Gespräch fest. Das war nicht nur eine Geste an die Christen. Sie setzte zugleich auch ein innerjüdisches Zeichen, das manchen Rabbiner nachdenklich machte.

Konflikte Überhaupt ist Rabbi Brandts Bedeutung für die innerjüdischen Konflikte unschätzbar. Er selbst verkörpert in seiner eigenen Person so manchen Spagat, dessen es bedarf, um die jüdische Welt zusammenzuhalten. Bekanntlich teilte sich der liberal-jüdische Aufbruch der 90er-Jahre. Ein Flügel schloss sich der »World Union for Progressive Judaism« an und reorganisierte sich als »Union progressiver Juden« in Städten wie Hannover, München oder Köln. Der andere Flügel blieb weiterhin in den Zentralratsgemeinden engagiert und trat, etwa in Berlin und Frankfurt, für größere liberal-jüdische Spielräume innerhalb der bestehenden Strukturen ein.

Rabbi Brandt ist heute in beiden Systemen aktiv. Er unterstützt das von Walter Homolka gegründete Abraham Geiger Kolleg, sprach zum 20-jährigen Jubiläum des Egalitären Minjans, der das »Frankfurter Modell« der Einheitsgemeinde mit sowohl der orthodoxen als auch der liberalen Strömung unter einem Dach verkörpert, und amtiert sowohl in der moderat-orthodox eingestellten Gemeinde Augsburg als auch in der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld, dem Flaggschiff der »Union progressiver Juden«.

Vaterjuden Seine Flexibilität verknüpft sich gleichzeitig mit einer mutigen Streitbarkeit. Dabei geht Brandt Risiken ein, für die er schon durchaus Konsequenzen tragen musste. So setzte er sich früh für die Gleichberechtigung der Frauen im Synagogengottesdienst ein, unterstützt heute eine offene Einstellung gegenüber patrilinearen Juden und tritt für Gemeindedemokratie ein.

Er kann aber auch ein Machtwort sprechen und die Kollegen ermahnen, den eher traditionell-konservativ eingestellten Konsensus der Gemeindemitglieder zu respektieren. Als er meine Ketuba las, derzufolge ich nicht nur nach der »Religion von Moses und Israel« heiraten würde, sondern der von »Moses, Miriam und Israel«, stöhnte er und vollzog dann aber trotzdem die Zeremonie.

Neulich hatte ich im Leo Baeck College in London zu tun. In einem Gang hängen die Fotos der dort ordinierten Rabbiner. Auf dem Foto der Absolventen von 1961 begegnete mir plötzlich Henry Brandt. Was für ein Weg! Nach dem Novemberpogrom 1938 war seine Familie mit ihm aus München über England nach Palästina geflüchtet. Dort nahm er als Offizier an Israels Unabhängigkeitskrieg teil.

berufung In den 50er-Jahren studierte er zunächst Wirtschaftswissenschaft in Belfast und arbeitete eine Weile in der Autoindustrie. Doch in dieser Zeit bricht sich seine rabbinische Berufung Bahn. 1957 beginnt er ein Rabbinatsstudium am Leo Baeck College. Danach folgen Stationen als Rabbiner in Leeds, Genf, Zürich (Gründungsrabbiner der Gemeinde Or Chadasch) und Göteborg. 1983 kehrt er nach Deutschland zurück. Hier wird er Landesrabbiner von Niedersachsen und zwölf Jahre später Landesrabbiner von Westfalen-Lippe.

In dem nach Leo Baeck benannten Rabbinerseminar ist allein schon in den familiären Bezügen vieler Dozenten immer noch die Verbindung zum einstigen deutschen Judentum spürbar. Außer Henry Brandt sehe ich einige weitere mir bekannte deutschsprachige Rabbinatsabsolventen. Doch von all diesen ist Henry Brandt derjenige, der nicht nur nach Deutschland zurückgekehrt ist und am Erbe des deutschen Judentums anknüpfte. Er vermochte dabei einen Rahmen zu schaffen, in dem eine neue Generation von Rabbinern und Rabbinerinnen in Deutschland heute wirken kann. Danke, Henry!

Wir wünschen dir für die nächsten 30 Jahre viel Glück, Gesundheit und Koach und außerdem viele erfüllte Momente mit deiner Frau Sheila, deinen Kindern und Enkeln!

Die Autorin ist Rabbinerin und Initiatorin des Egalitären Minjans in Frankfurt.

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