Porträt der Woche

Am ehesten »Ruhrpottlerin«

Lisa Michajlova studiert Mathe, ist Tischtennis-Profi und engagiert sich ehrenamtlich

von Elke Wittich  08.04.2023 22:59 Uhr Aktualisiert

»Oft waren es Zufälle, die mir ganz neue Möglichkeiten eröffneten«: Lisa Michajlova (24) aus Bochum Foto: Gustav Glas

Lisa Michajlova studiert Mathe, ist Tischtennis-Profi und engagiert sich ehrenamtlich

von Elke Wittich  08.04.2023 22:59 Uhr Aktualisiert

Studium, Sport, ehrenamtliches Engagement in ganz verschiedenen Bereichen – man kann schon sagen, dass mein Leben ziemlich ausgefüllt ist. Aber ich mag das. Und obwohl ich ziemlich gut organisiert bin, waren es oft Zufälle, die mir ganz neue Möglichkeiten eröffneten.

Wie jüngst bei der Winter-Makkabiade, wo ich eigentlich nur als Social-Media-Managerin mithelfen wollte, aber dann plötzlich im Curling-Team landete, weil meine Freundin ihr Team noch füllen musste. Mein eigentlicher Sport ist Tischtennis, im Einzel und Damen-Doppel habe ich bei den Makkabiaden im Sommer schon mehrfach Gold gewonnen – und jetzt habe ich dazu noch Silber im Curling.

zufälle Die Sache mit den Zufällen hat schon früh angefangen. Und dazu geführt, dass ich mit 15 ein Jahr in Wisconsin verbringen konnte. Ich bewerbe mich gern für Sachen, einfach um zu gucken, ob ich eine Chance habe. Und als ein Verein ein Stipendium für Schüler der 10. Klasse mit Migrationshintergrund anbot, reizte mich das sehr. Sie wollten mich auch gern nehmen, aber ich war mit meinen 13 Jahren noch zu jung. Ich konnte dann nach der 10. Klasse das Auslandsjahr einlegen, und es war toll.

Englisch, US-Politik und Geschichte waren die obligatorischen Fächer, ansonsten konnte ich frei wählen, was ich lernen wollte. Wieder zurück, kam ich in eine neue Anschlussklasse, in der ich nicht mehr die Jüngste und Kleinste war, das war ein positiver Nebeneffekt.

Nach dem Abi wollte ich gern Philosophie studieren. Mich interessierten in der Schule viele Fächer und ich dachte, die Lehre von allem passe doch gut. An den meisten deutschen Unis kann man Philosophie allerdings nicht als Ein- Fach-Bachelor-Studiengang machen, also nahm ich noch Mathematik dazu. Mathematik hat mir immer gut gefallen, und überdies waren mein Vater und meine Oma in der Ukraine Mathematik- und Physiklehrer.

Während meines Studiums kann ich mich voll und ganz auf die Inhalte, den Sport und das Ehrenamt konzentrieren. Ich werde seit sechs Jahren von der Gerhard C. Starck Stiftung gefördert. Neben der finanziellen Unterstützung kann ich so tolle Leute kennenlernen und mich gut vernetzen.

familie Ich bin die Erste in meiner Familie, die in Deutschland geboren wurde. Meine Eltern sind als sogenannte Kontingentflüchtlinge mit meiner großen Schwester hierhergekommen.

Sehr oft war ich nicht in der Ukraine und dennoch ist Russisch meine Muttersprache. 2003 oder 2004 waren wir dort, da war ich erst vier oder fünf Jahre alt. Und dann noch einmal 2010, danach wurde es in einigen Regionen zu gefährlich. Kurz vor dem Krieg sind wir dann aber doch noch einmal in der Ukraine gewesen, um meinen Opa zu besuchen. Das war auch wieder zufällig, meine Eltern meinten, dass wir schon so lange keinen Familienurlaub mehr hatten.

Eigentlich dachten sie an Spanien, aber wir hatten den Opa schon so lange nicht mehr gesehen. Er fliegt nämlich nicht, sondern fährt mit dem Bus nach Deutschland, was in seinem Alter, er ist schon über 80, doch eine ziemliche Strapaze wäre.

auslandsjahr Kiew hat mir sehr gefallen, ich hatte sogar überlegt, mein Auslandsjahr dort zu verbringen, was wirklich gut gepasst hätte, weil mein Opa dort eine Wohnung hat. Als dann der Krieg losging, wollte er erst nicht zu uns nach Deutschland kommen, aber nach wenigen Tagen hat er sich doch in den Zug gesetzt, und die Familie hat ihn in Polen abgeholt. Mittlerweile hat er sich schon ganz gut eingelebt.

Natürlich gab es bei den Turnieren viel Spaß und schöne Erlebnisse, aber eben auch Stress.

Meine Eltern waren beide professionelle Tischtennisspieler. Die Liebe zu diesem Sport haben sie natürlich an meine Schwester und mich weitergegeben. Mittlerweile hat unsere Familie schon reichlich Pokale gesammelt. Als Kind spielt man viele Turniere und bekommt jedes Mal richtig coole fancy Pokale. Sie bedeuten mir aber nicht besonders viel, denn in meiner Kindheit habe ich den Sport oft als sehr ungerecht empfunden. Später, im Erwachsenensport, gibt es klare Regelungen, wer zu großen Turnieren und Meisterschaften fahren darf, aber in der Jugend geht es sehr intransparent zu. Oft wird nicht nach Leistung entschieden, sondern nach Sympathie des Trainers, oder es gibt andere intransparente Kriterien. Natürlich gab es auch viel Spaß und schöne Erlebnisse, aber die Pokale verbinde ich eher mit Stress.

Damals konnte ich mir nicht vorstellen, wie viel mir Tischtennis im späteren Leben bringen würde. Ich konnte zum Beispiel mit 16 Trainerin sein, obwohl ich noch gar keine Trainerinnenausbildung hatte. Meine Klassenkameradinnen arbeiteten für weniger Geld irgendwo an der Kasse, und ich konnte mit meinem Hobby Geld verdienen.

Teammanagerin Seit acht Jahren bin ich bei Makkabi, erst nur als Spielerin, dann auch als Teammanagerin. Das ist eine sehr vielseitige Aufgabe, zu der nicht nur gehört, guten Kontakt mit den Eltern der von uns betreuten Kinder zu halten. Weiterbildung gehört auch dazu, nicht nur trainingstechnisch, sondern auch zu verschiedenen Themen wie Prävention sexueller Gewalt und Antisemitismus. Mit vier anderen habe ich nun auch den jüdischen Studierendenverband in Bochum (GESH) gegründet und kann nun mein jüdisches und mein akademisches Leben verbinden. Wir organisieren Bar-Abende, machen Infoveranstaltungen oder religiöse Feste – davor war ich schon in der Fachschaft aktiv.

Ich habe es einfach gern, wenn man alles richtig akribisch macht, und dann sieht, dass daraus viel Positives entsteht. Und als Research-Assistentin arbeite ich außerdem als Tutorin für Logik und Mathematik. Nun passt alles zusammen, Arbeit, Studium, Freunde, alles. Nach dem Studium hoffe ich, an der Uni in der Forschung bleiben zu können – im Bereich Logik, das ist mein Gebiet. Ich beschäftige mich mit probabilistischer Argumentationstheorie, das ist grob gesagt ein formales Modell, um menschliches Deduzieren und Argumentieren zu modellieren – man berechnet die Stärke von Argumenten und Gegenargumenten und wählt diese nach systematischen Regeln in der Argumentationssemantik aus. Das hat mit Künstlicher Intelligenz zu tun und wird immer wichtiger.

Gleichzeitig ist alles noch sehr neu, es geht um Grundlagenforschung, und man weiß entsprechend noch nicht, wohin es führt. Meine Eltern schätzen Bildung, klassisch postsowjetisch-jüdisch, sehr und erkennen entsprechend meine akademischen Leistungen an. Insbesondere meine Oma hat es sehr gefreut, dass ich wie sie Mathematik studiere. Leider sind viele Themen nicht so zugänglich und sehr theoretisch, und es ist schon ein bisschen ernüchternd, wenn um einen herum keiner so wirklich nachvollziehen kann, was man tut.

ballett Seit zehn Monaten mache ich übrigens auch noch Ballett. Ich wollte immer schon tanzen lernen, denn ich gehe zwar gern feiern, aber ich kann nicht gut tanzen. Außerdem wollte ich gern etwas machen, wozu ich keinen Partner brauche, beim Tischtennis ist man ja zum Beispiel auch ständig darauf angewiesen, einen guten Trainingspartner zu haben. Also Ballett, denn ich dachte mir, das ist eine gute Basis für alles. Russisches Ballett, um genau zu sein, das passt auch gut zu mir, denn ich bin strikt und gerade. Und im russischen Ballett gibt es immer eine exakte, richtige Art und Weise.

Zudem mag ich das Klischee, dass ich postsowjetisch bin, also Schach spiele, Ballett tanze, Mathematik studiere und dazu auch noch blond und schlank bin. Ich sage postsowjetisch, weil es kein Wort und keinen Namen für das gibt, was wir in Deutschland aufgewachsene Kinder der sogenannten Kontingentflüchtlinge sind.

Dabei ist das Muster bei fast allen von uns gleich: Unsere Eltern haben kaum einen Bezug zum Judentum, sie sind säkular, während die Großeltern diesen Bezug sehr wohl haben, ihn aber früher oft verstecken mussten. Wir Kinder sind dagegen in den Gemeinden und mit Machanot aufgewachsen und ganz selbstverständlich jüdisch.

Kartoffeln Ich habe eben kein Wort für das, was ich bin. Als deutsch würde ich mich nicht bezeichnen, gleichzeitig fühlt sich das schon ein wenig falsch an, weil ich ja eben hier aufgewachsen bin. Ich würde aber ungern wie eine Amerikanerin sagen, dass ich ein Viertel dies und ein Viertel jenes und zur Hälfte das bin. Also: Ich bin schon deutsch, ich liebe die deutsche Ordnung, sogar die Bürokratie, und den gut funktionierenden Nah- und Fernverkehr.

Ansonsten feiere ich keine deutschen Feiertage, außer den 1. Mai, und ich mag das deutsche Essen nicht. Okay, Kartoffeln mag ich, aber ich werde nie verstehen, warum die als typisch deutsch gelten, denn die isst man auch anderswo gern, beispielsweise in der Ukraine und in Indien.
Am ehesten bin ich »Ruhrpottlerin«, ich mag dieses Direkte, das Freche, die klaren Ansagen, das gibt es in keiner anderen deutschen Region.

Hier geht das, ehrlich und geradeheraus zu sein, und natürlich ist der Ruhrpott ein großer Schmelztiegel, meine engsten Freunde sind zu 90 Prozent so wie ich Menschen mit Migrationshintergrund. Ich würde mich schon als zielgerichtet beschreiben, ich mag es einfach, Dinge zu tun, bei denen am Ende etwas herumkommt, für andere oder für mich. Aber klar, ich kann auch nichts tun, im Sommer liege ich gern mit meinen Freunden draußen herum und arbeite an nichts anderem als an meiner Bräune.

Aufgezeichnet von Elke Wittich

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