Porträt der Woche

Aktiv und präsent

»Ich möchte in erster Linie als Mensch wahrgenommen werden – und dann als Jüdin und als Frau«: Shelly Meyer (25) aus Hamburg Foto: Gesche Cordes

Porträt der Woche

Aktiv und präsent

Shelly Meyer studiert Marketing und will viele Facetten des Judentums vermitteln

von Annette Kanis  16.02.2021 09:41 Uhr

Vom Typ her bin ich eine, die gerne alles gleichzeitig und schnell macht und sich voller Herzblut einsetzt – sowohl für die jüdische Community als auch für die Gesellschaft. Für mein Engagement gibt es mehrere Gründe. Ich möchte dazu beitragen, der Generation nach mir eine Zukunft zu schaffen, in der man sich nicht anders fühlt. Deswegen versuche ich, jungen jüdischen Menschen die positiven Aspekte des Judentums näherzubringen: dass man stolz darauf sein kann, es nicht verstecken muss und dass es auch ganz viele tolle Aspekte mit sich bringt, jüdisch zu sein.

Projekt Ein anderer Grund ist meine Oma väterlicherseits. Ihr habe ich ein persönliches Versprechen gegeben. Solange es für mich möglich ist, in Deutschland als jüdische Person zu leben, werde ich alles daransetzen, dass das jüdische Leben hier aktiv und präsent sein wird. Zu diesem Versprechen kam es 2015 im Zusammenhang mit meinem Kurzfilm Sprache hat nichts mit Politik zu tun im Rahmen eines Projekts. 2019 starb meine Großmutter, zu der ich ein sehr enges Verhältnis hatte.

Meine Oma wurde 1919 in Deutschland geboren und ist in Essen aufgewachsen, eine früher sehr jüdisch geprägte Stadt. Als Kind war meine Oma stolz darauf, jüdisch zu sein. Die ganze Familie ging in die Synagoge und war in der Gemeinde aktiv. Als Jugendliche verstand sie nicht, warum Freunde plötzlich nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten und sie nicht mehr zur Schule gehen durfte. Sie wollte sogar beim »Bund Deutscher Mädel« mitmachen, weil alle ihre ehemaligen Freundinnen auch dort waren.

Ich möchte eine Zukunft schaffen, in der man sich nicht anders fühlt.

Im April 1939 konnte sie noch ganz knapp Deutschland verlassen. Ihre Geschwister waren damals schon in England und halfen ihr und der Mutter bei der Flucht. Aber England nahm keine Juden mehr auf. Also ging ihre Reise weiter nach Südafrika.

Ich finde es wichtig, dass in Deutschland Judentum als selbstverständlich angesehen wird, aufzuzeigen, dass wir genauso Teil der Gesellschaft sind. Ich möchte vermitteln, dass es nicht nur diese Opferperspektive gibt, sondern auch eine aufblühende Perspektive mit frischer Energie, Freude und Zusammenhalt. Ich weiß, ich habe eine Community, die hinter mir steht, es gibt immer Leute, die mich auffangen und bestärken. Das ist ein schönes Gefühl.

ANPASSUNG Das Interesse an meiner eigenen Identität begann bei mir schon sehr früh. Geboren wurde ich in Israel. 2002, als ich knapp sieben Jahre alt war, zogen wir als Familie nach Deutschland. Doch mein Opa mütterlicherseits konnte es nicht nachvollziehen, wie man nach »Nazideutschland« ziehen kann, und hat daher nach außen hin immer gesagt, wir seien in Schweden oder den Niederlanden.

Auch wenn ich vielleicht eine andere Sprache spreche oder andere Feiertage feiere, habe ich letztendlich dieselben Interessen wie auch andere in meinem Umfeld.

Am Anfang war es für mich sowohl sprachlich als auch von der Mentalität her sehr schwierig. In Israel reden alle gleichzeitig, und man versteht dann trotzdem irgendwie alles, man ist laut und man redet mit dem ganzen Körper. Dann kam ich nach Hamburg, und es waren einfach zwei verschiedene Welten, die aufeinandergetroffen sind. Ich musste erst einmal lernen, mich anzupassen.

Wenn man anders ist – und so habe ich es wahrgenommen, als ich in Hamburg in der Grundschule in die zweite Klasse kam –, möchte man ein Bewusstsein schaffen, dass man doch nicht so anders ist. Auch wenn ich vielleicht eine andere Sprache spreche oder andere Feiertage feiere, habe ich letztendlich dieselben Interessen wie auch andere in meinem Umfeld.

Der Bezug zu Israel ist auf jeden Fall noch da, wir haben noch Familie dort, und ich habe stetigen Kontakt zu Freunden aus dem Kindergarten und der Schule. Mit den verschiedenen Ferienfreizeiten bin ich auch regelmäßig in Israel. Ich identifiziere mich mit Israel, vielleicht nicht mit der israelischen Politik, aber die Mentalität, das Essen, die Sprache und Kultur sind irgendwie ein Teil von mir.

CORONA Zurzeit studiere ich Marketing, weiß jedoch noch nicht so genau, in welchem Bereich ich später arbeiten möchte. Ich bin mir aber sicher, dass mich das Leben dahin lotsen wird, wo dann mein Ziel sein wird.

In Corona-Zeiten vermisse ich am meisten die direkten sozialen Kontakte. Besonders fällt es mir bei der Arbeit im Jugendzentrum auf, dass zum Beispiel situative Lacher über Online-Veranstaltungen kaum möglich sind und dass uns das Beisammensein wirklich fehlt.

Trotzdem denke ich, dass Corona auch Positives bewirken kann. Der übliche Alltag, den wir häufig als Trott erleben, wurde jetzt zum Privileg. Das hält mir Corona sehr deutlich vor Augen. Das, was ich als selbstverständlich erachtet habe, ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Das lernt man neu schätzen. Und dass man digital ganz neu denkt und sich umstrukturieren muss, ist auf jeden Fall für mich persönlich wie auch beruflich sehr spannend.

In der Jüdischen Gemeinde Hamburg arbeite ich im Jugendreferat und bin im Jugendzentrum für die Kommunikation mit den Betreuern und für das gemeinsame Entwickeln und Realisieren der Projekte zuständig. Außerdem bemühe ich mich um den Aufbau der Young Professionals Community für 18- bis 35-Jährige.

»CHASAK« Mit 14 Jahren habe ich selbst als Betreuerin im Jugendzentrum »Chasak« angefangen, später dann auch bei Ferienfreizeiten der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und bei Taglit Birthright mitgemacht.

Seit drei Jahren nehme ich an »Meet a Jew«, einem Projekt des Zentralrats der Juden in Deutschland, teil. Mit diesem Projekt repräsentieren wir lebendiges jüdisches Leben in Deutschland und zeigen, wie facettenreich es ist, jüdisch zu sein. Außerdem klären wir Fragen, manchmal auch Vorurteile, auf. Aus der einen oder anderen Begegnung entwickeln sich sogar Freundschaften, und das ist das, was jede einzelne Begegnung ganz besonders macht.

Ich finde einfach, es ist meine zivilgesellschaftliche Pflicht, einen Einblick ins Judentum zu gewähren.

Auch über meine persönlichen sozialen Netzwerke versuche ich zu zeigen, wie bunt und vielfältig mein Verständnis und meine Auslegung vom Judentum sind. Außerdem habe ich gemeinsam mit meiner Freundin Esther Heller im letzten Jahr »Koach« gegründet, eine lokale Networking-Plattform für junge jüdische Erwachsene.

Koach bedeutet Stärke. Denn Stärke ist das, was wir aus den gemeinsamen Veranstaltungen schöpfen. Zusätzlich bringe ich mich beim jungen interreligiösen Dialog in Hamburg »Young Visions« ein und repräsentiere dort die Hamburger Gemeinde.

Ich finde einfach, es ist meine zivilgesellschaftliche Pflicht, einen Einblick ins Judentum zu gewähren. Wenn wir als junge Jüdinnen und Juden uns nicht gegenseitig unterstützen und auch nicht mit unserem Umfeld offen über das heutige und aktive jüdische Leben sprechen, um fest verankerte Stereotype zu brechen – wer dann?

SYNAGOGE Ich lebe gerne in Deutschland und fühle mich in Hamburg sehr wohl, auch trotz des antisemitischen Vorfalls vor der Synagoge, der hier im vergangenen Oktober passiert ist.

Ich bin davon überzeugt, dass Juden ein fester Bestandteil der Gesellschaft sind und von der Mehrheitsgesellschaft auch so wahrgenommen werden. Das zeigt jetzt auch die Kampagne »Nein zu Antisemitismus. Ja zur Bornplatzsynagoge«, bei der ich als Initiatorin mitwirke und für die wir sehr viel Zuspruch bekommen haben seitens der Gesellschaft, der Politik und der Medien. Es ist toll, dass viele Hamburgerinnen und Hamburger hinter uns stehen und sagen, dass die Synagoge oder auch ein jüdisch geprägtes Gebäude wieder mitten in unserer Stadt aufgebaut werden soll.

Ich weiß nicht, ob ich auch dieser Mensch geworden wäre, würde ich einer anderen Religion angehören.

Ich sehe mich persönlich nicht als eine religiöse Person, sondern säkular oder liberal. Doch wenn wir einen Feiertag haben, dann gehört es zur Tradition, Gebete zu sprechen, mit der Familie zusammenzusein und die Lieder zu singen. Ich kenne viele Gebete, bringe religiöse und kulturelle Inhalte gerne anderen Menschen bei, dass sie es kennen und schätzen lernen.

Aber es ist nichts, was ich in meinen Alltag integriere oder was eine präsente Rolle spielt, denn ich möchte in erster Linie als Mensch wahrgenommen werden – und dann als Jüdin und als Frau.
Trotzdem nimmt das Jüdische einen sehr großen Teil meiner Persönlichkeit und meiner Identität ein. Dadurch, dass mir immer präsent ist, dass ich einer Minderheit angehöre, dass ich anders bin und dass ich irgendwie kämpfen muss. Ich weiß nicht, ob ich auch dieser Mensch geworden wäre, würde ich einer anderen Religion angehören, auch so sozial engagiert und für die Gerechtigkeit anderer Minderheiten einstehend.

Aufgezeichnet von Annette Kanis

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