Gottesdienst

Zweifler willkommen

Schacharit-Gottesdienst in der Synagoge Beth Zion in der Berliner Brunnenstraße Foto: Marco Limberg

Mein verstorbener Vater seligen Angedenkens erzählte mir einmal eine Geschichte über einen unregelmäßigen Besucher unserer Synagoge.

Dieser kam nur an den Hohen Feiertagen zum G’ttesdienst, obwohl er über ein umfangreiches und tiefgehendes jüdisches Wissen verfügte. Er war also ein »Gelernter«, wie es bei uns heißt.

Umso verwunderlicher war es, dass er sich nur an wenigen Tagen des Jahres in der Synagoge blicken ließ. Auf die naheliegende Frage, weshalb er denn nicht öfter komme, antwortete er mit einem ebenso traurigen wie entschuldigenden Lächeln: »Weil ich meine Zweifel an der Religion bekommen habe.«

»Ginsburg geht in die Synagoge, um mit G’tt zu reden. Ich gehe, um mit Ginsburg zu reden.«

Nach einigen Jahren kam der sporadische Besucher plötzlich häufiger in die Synagoge. Das war zwar erfreulich, schien angesichts seiner früher geäußerten Zweifel an der Religion aber etwas seltsam. Auf die Frage, warum er denn nun öfter zu den G’ttesdiensten komme, antwortete der Mann: »Weil ich Zweifel an meinen Zweifeln bekommen habe.«

Schabbat Diese Geschichte fällt mir gelegentlich ein, wenn ich mich während eines Samstagmorgeng’ttesdienstes in der Synagoge umschaue. Und dann frage ich mich, was diejenigen Juden, die sich nicht von religiöser Pflichterfüllung und Gesetzen leiten lassen, eigentlich dazu bewegt, in die Synagoge zu kommen?

Was ist es, das uns am Schabbat und an den zahlreichen Feiertagen die Synagoge besuchen lässt? Was ist es, das uns daran festhalten lässt, die Jiskor-Gebete des ehrenden Totengedenkens an verstorbene Angehörige zu sprechen? Was ist es, das selbst erklärt atheistische Juden dazu bringt, während des Pessachfestes die Mazzot, also die ungesäuerten Brote zu essen oder während des höchsten jüdischen Feiertages, Jom Kippur, zu fasten? Und zwar auch manche derjenigen, die sich um die Einhaltung der Religionsgesetze sonst nicht im Mindesten scheren?

Zugegeben: Die Zahl dieser Juden ist leicht rückläufig. Also die Zahl derjenigen, die vollkommen religionsfern leben, aber dennoch an bestimmten Feiertagen in die Synagoge kommen. Aber das Phänomen gibt es nichtsdestoweniger.

Die wenigsten allerdings dürften sich – wie der Herr aus der Geschichte – an einem Scheidepunkt ihres Lebens befinden, an dem entweder die Zweifel oder aber die Zweifel an den Zweifeln die Oberhand gewinnen. An dem also nach tiefgründiger und umfassender Abwägung entweder der Bruch vollzogen oder die Phase der Skepsis überwunden und der Weg zurück zu Gebet und G’tt gesucht wird.

Klar: Auch diese Menschen gibt es. Wir nennen sie Baalei Tschuwa. Übersetzt heißt das in etwa: »Herren der Umkehr«. Also diejenigen Juden, die ihr ursprünglich religionsfernes Leben hinter sich lassen und sich G’tt, dem Judentum und seinen Gesetzen verschreiben. Die auf der Suche nach der eigenen jüdischen Identität ein klares Bekenntnis zu dem G’tt Israels ablegen und ein religiös-jüdisches Leben beginnen oder dahin zurückkehren.

Versammlung Aber wenn wir ehrlich sind, machen die frommen und gesetzestreuen Juden – zumindest in den meisten Gemeinden Deutschlands – nur einen klitzekleinen, wenn auch bedeutenden Teil aus. Die Mehrheit besucht die Synagoge dagegen eher aus anderen Gründen. Etwa, weil man dort alte Bekannte trifft – die Synagoge heißt ja nicht umsonst auch Beit Haknesset, also Haus der Versammlung. Oder weil man sich gerne unterhalten möchte.

Die meisten Synagogenbesucher stört es deshalb auch wenig, dass der Lärmpegel während des G’ttesdienstes mitunter leicht erhöht ist.
Zumindest so lange, wie sie selbst nicht beten, sondern in angeregte Gespräche vertieft sind. Sobald die persönliche Unterhaltung dann allerdings beendet und der Fokus wieder auf den G’ttesdienst gerichtet wird, folgt das obligatorische Zischen, das »Schhhhhht«, um andere daran zu erinnern, dass man schließlich wegen des Gebetes gekommen ist und nicht, um zu schwätzen.

Mein verstorbener Vater, neben dem ich von klein auf saß, war ein Meister dieser Disziplin und hat damit ein ums andere Mal für Ruhe und Ordnung, für entschuldigende Blicke, mitunter aber auch für allgemeine Erheiterung gesorgt. Vor allem bei denjenigen, die ihn gut kannten. Lachen ist schließlich gesund, wie es heißt.

Wie dem auch sei: Rabbiner Jonathan Sacks schrieb einmal über den Besuch von Prinz Charles, dem Thronfolger des britischen Königshauses, in einer Londoner Synagoge und dessen Verwunderung, wie lebhaft es während des G’ttesdienstes zugehe.

Rabbiner Sacks erklärte daraufhin, dass die allgemeine Sorge, wonach die Kunst der Konversation im Sterben liege, weder Hand noch Fuß habe. Stattdessen lebe die gepflegte, angeregte und manchmal auch aufgeregte Konversation! Vor allem während des G’ttesdienstes in der Synagoge.

Atheist Und der amerikanische Schriftsteller Harry Golden erzählte einmal eine Anekdote über seinen sozialistischen und atheistischen Vater, der dennoch jeden Abend in die Synagoge gegangen sei, um am gemeinsamen G’ttesdienst teilzunehmen.

Egal, aus welchem Motiv: Die Beter drücken ihre Verbundenheit mit dem jüdischen Volk aus.

Eines Tages habe er ihn gefragt, warum er als überzeugter Atheist, der weder an G’tt noch an die gesprochenen Gebete glaube, denn Tag für Tag in die Synagoge gehe? Sein Vater habe darauf geantwortet: »Kennst du meinen guten Freund Ginsburg? Er geht in die Synagoge, um sich mit G’tt zu unterhalten. Und ich gehe in die Synagoge, um mich mit Ginsburg zu unterhalten.«

Doch der Wahrheit die Ehre: Es gibt natürlich neben der Gesetzestreue und dem Unterhaltungswert noch weitere gewichtige Gründe, weshalb Juden in die Synagoge gehen. Etwa, um dem diffusen Gefühl zu folgen, familiären Traditionen zu entsprechen.

Oder in dem Wissen, dass wir uns in dieser Umgebung im Einklang mit unseren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern befinden. Mit jenen Vorfahren also, die wir allzu oft aufgrund der historischen Ereignisse nicht oder nur unzureichend haben erleben dürfen.

Wieder andere kommen, weil es ein Treffpunkt eigener Art ist. Ein Ort, an dem Juden in einem geschützten Raum zusammenkommen. Ein Ort, der auf der Suche nach menschlicher Gemeinsamkeit aufgesucht wird. Auf der Suche nach einem Zusammentreffen mit Gleichgesinnten, die das Gefühl von Zusammengehörigkeit nähren.

Also den manchmal so schwer zu definierenden Wunsch, die für sich selbst erkannten Werte auch bei anderen wiederfinden zu können. Lebensgeschichten und Schicksale, ebenso wie Freude und Trauer mit den Geschwistern im Geist teilen zu können. Sich in der Gesellschaft mit anderen Gleichen letztlich wohlfühlen zu können, ein Stück Geborgenheit und Vertrautheit zu empfinden.

Essen Und manche kommen – seien wir ehrlich –, weil sie gerne gut und koscher essen wollen. Wobei das eine das andere nicht ausschließt. Jedenfalls ist das Essen als solches ein nicht unerheblicher Faktor.

Schließlich verlangt das Judentum die Balance von Spirituellem und Weltlichem. Das Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde. Eine Ausgewogenheit zwischen der Hingabe zu G’tt und einem guten Leben in dieser Welt.

Und zu diesem guten Leben gehört natürlich auch das Essen. Nicht umsonst lautet die Kurzbeschreibung der jüdischen Feiertage wie folgt: »Sie wollten uns vernichten. Sie haben es nicht geschafft. Guten Appetit!«

Welche Gründe einen Menschen letztlich auch dazu bewegen, die Synagoge zu besuchen und an G’ttesdiensten teilzunehmen: Er wird in jedem Fall zu einem wichtigen, bedeutsamen Teil der Gemeinschaft. Und er bringt seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk zum Ausdruck.

Geisteshaltung Ob er dabei ein Gläubiger oder eher ein Zweifler ist, spielt eigentlich nur eine untergeordnete Rolle. Denn erstens ist dies eine Angelegenheit zwischen ihm selbst und G’tt.

Zweitens legt das Judentum mehr Wert darauf, was ein Mensch tut, als was er glaubt. Die Gedanken sind frei, und Theologien oder Geisteshaltungen variieren von Jude zu Jude.

Entscheidend ist vielmehr, dass man im Einklang mit der jüdischen Tradition handelt und lebt. Und da ist der Besuch der Synagoge und des G’ttesdienstes aus vielerlei Gründen schon mal ein wichtiger Schritt.

Es ist Teil unseres Wesens und unserer Tradition, zu zweifeln und mit G’tt zu ringen.

Drittens räumt das Judentum auch dem Zweifel eine wichtige Rolle ein. So schrieb Rabbiner Emanuel Rackmann in dem Buch The Condition of Jewish Belief sinngemäß, dass Gewissheit Gift für die Seele sei und fundamentalistische Ideologien und Haltungen begünstige.

Und viertens tragen wir den Zweifel bereits in unserem eigenen Namen: Wir sind alle Teil des Volkes Israel. Und Israel wiederum bedeutet übersetzt so viel wie »mit G’tt ringen«. Sprich: Es ist Teil unseres Wesens, unserer Tradition, unserer Aufgabe, kritisch zu fragen, zu hinterfragen, zu diskutieren. Den Glauben nicht blindlings anzunehmen, sondern ihn – im besten Fall – im Ringen mit G’tt zu erlangen.

Sind nun alle Zweifel beseitigt? Ich glaube nicht. Aber vielleicht sehen wir uns ja trotzdem demnächst in der Synagoge?

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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