Schaltjahr

Zweifache Erlösung

Für den jüdischen Kalender spielen sowohl Sonnen- als auch Mondzyklus eine Rolle. Damit die lunearen Monate mit den Jahreszeiten übereinstimmen, wird der Monat Adar alle paar Jahre verdoppelt. Foto: Getty Images/iStockphoto

Was ist ein Jahr? An verschiedenen Orten der Erde könnte die Antwort auf diese scheinbar simple Frage sehr unterschiedlich ausfallen!

Die Erde braucht 365,25 Tage, um die Sonne zu umlaufen. Daher dauert ein Sonnenjahr 365 Tage, und alle vier Jahre wird ein Tag im sogenannten Schaltjahr hinzugefügt – so wie auch an diesem 29. Februar. Ein Schaltjahr im Sonnenkalender ist nötig, damit der Kalender den Erdumlauf adäquat abbildet und die Jahreszeiten langfristig den dazugehörigen Monaten entsprechen. Dies ist der Kalender, den wir aus der christlich geprägten westlichen Welt kennen.

In muslimischen Ländern wird hingegen der Mondkalender benutzt. Ein Mondjahr besteht aus zwölf Mondphasenzyklen, also zwölfmal von Neumond zu Neumond. Da ein Mondphasenzyklus circa 29,5 Tage dauert, ist ein Mondjahr nur ungefähr 354 Tage lang – eine Diskrepanz von circa elf Tagen zum Sonnenjahr. So ist zum Beispiel zu erklären, dass der Fastenmonat Ramadan durch das christliche Jahr wandert und manchmal im Sommer und manchmal im Winter stattfindet.

Die Monate am Mond festmachen

Doch wonach richtet sich das Judentum? Nach der Sonne oder dem Mond? Und wie lang ist ein jüdisches Jahr? Das erste Gebot, das die jüdische Nation in der Tora bekommt, lautet: »Dieser Monat soll bei euch der Anfang der Monate sein, er soll für euch der erste Monat des Jahres sein« (2. Buch Mose 12,2). Gemeint ist hier der Monat des Auszugs aus Ägypten, also der Monat Nissan. Von hier lernen wir, dass wir die Monate am Mond festmachen sollen, da der Monat Nissan ein Mondmonat ist.

Es steht auch geschrieben, dass das Pessachfest immer an demselben Datum, nämlich am 15. Nissan, stattfinden soll: »Am fünfzehnten Tag dieses Monats beginnt das Fest der ungesäuerten Brote; sieben Tage sollt ihr ungesäuertes Brot essen« (3. Buch Mose 23,6).

Es steht allerdings auch geschrieben, dass Pessach immer im Frühling stattfinden soll: »Hüte den Monat des Frühlings, dass du opferst das Pessach dem Herrn, deinem Gʼtt; denn in dem Monat des Frühlings hat dich herausgeführt der Herr, dein Gʼtt, aus Ägypten« (5. Buch Mose 16,1).

Die Tora fordert uns also dazu auf, das Pessachfest am 15. des Mondmonats Nissan zu feiern, und legt gleichzeitig fest, dass dieser Monat immer im Frühling stattfinden soll. Doch wie soll das gehen? Es ist nur möglich, wenn sowohl Mond als auch Sonne gleichzeitig berücksichtigt werden.

Das jüdische Jahr ist also ein Mondjahr, das regelmäßig den Abstand zum Sonnenjahr aufholen muss, um den Monat Nissan immer im Frühling zu halten. Ein Mondjahr hat, wie bereits erwähnt, eine jährliche Diskrepanz von etwa elf Tagen zum Sonnenjahr, sodass immer wieder Schaltjahre benötigt werden, um diese Diskrepanz zu kompensieren.

Auf den ersten Blick entzieht sich der Talmud hier seiner Logik.

In 19 Jahren durchläuft der jüdische Kalender sieben Schaltjahre in zwei- und dreijährigen Abständen. Das Schaltjahr hat allerdings nicht nur einen zusätzlichen Tag, sondern einen zusätzlichen Monat, also einen 13. Mondphasenzyklus.

Dabei wird der Monat vor dem Nissan, der Adar, verdoppelt, und wir erhalten Adar Alef und Adar Bet – so auch in diesem Jahr 5784. Am kommenden Schabbat, dem 10. Februar, feiern wir also den Monatsanfang ebenjenes Adar Alef.

Religionsrechtliche Frage aus der Dopplung des Adars

Aus der Dopplung des Adars ergibt sich direkt eine religionsrechtliche Frage. Im Tanach wird das Feiern des Purimfestes in diesem Monat als religiöse Pflicht für alle Zeiten festgesetzt: »Mordechai schrieb diese Begebenheiten auf und sandte Briefe an alle Juden in allen Landschaften des Königs Achaschwerosch, die nahen und die fernen: Dass sie für sich festsetzen, zu feiern den vierzehnten Tag des Monats Adar und den fünfzehnten Tag, Jahr für Jahr« (Esther 9, 20–21).

Aber falls es zweimal den Adar gibt, in welchem sollte man Purim feiern? Der Talmud diskutiert diese Frage ausführlich. Einige der talmudischen Gelehrten argumentieren, dass es ein Prinzip gibt, nach dem man ein Gebot nicht aufschieben soll. Wenn man jetzt schon eine gute Tat machen kann, so soll man nicht bis zum Abend warten, und wenn man schon im ersten Adar Purim feiern kann, so soll man nicht bis zum zweiten Purim warten.

Der Talmud, der sich sonst immer von Logik und Prinzipien überzeugen lässt, lehnt diese Argumentation allerdings ab und verkündet: Purim soll im zweiten Adar gefeiert werden, um »die Erlösung mit der Erlösung zu verbinden« (Megilla 6b). Gemeint ist, dass man Purim im zweiten Adar feiern soll, weil auf den zweiten Adar der Monat Nissan folgt und im Nissan ebenfalls ein Erlösungsfest stattfindet, nämlich Pessach.

Dieser Grund wird auch als bindende Halacha festgehalten: Adar Bet ist der Monat, in dem Purim stattfinden muss, damit Purim immer nur einen statt zwei Monate von Pessach entfernt liegt. Die beiden Feste sollen immer nah beieinanderbleiben!

Die wichtigste Botschaft des Judentums

Warum ist dies ein legitimer Grund, der das zuvor geäußerte logische Argument außer Kraft setzt? Was macht es für einen Unterschied, ob Purim und Pessach einen Monat oder doch zwei Monate Abstand voneinander haben? Die Antwort auf diese Frage gibt Einblick in die meiner Meinung nach wichtigste Botschaft des Judentums.

Purim ist ein Fest der Erlösung innerhalb des Natürlichen. In der gesamten Esther-Rolle wird der Name Gʼttes kein einziges Mal erwähnt! Wir sehen keine übernatürlichen Wunder, wir sehen nichts, was darauf hindeuten würde, dass es überhaupt einen Gʼtt, einen Erlöser gibt. Das Buch Esther ist eine Geschichte von scheinbar vielen »Zufällen«, die dazu führen, dass dem jüdischen Volk die Vernichtung droht – und doch im Nachhinein diejenigen, welche die Juden vernichten wollten, selbst vernichtet werden.

Purim und Pessach sollten nah beieinanderliegen.

Doch das Judentum lehrt, dass nichts außerhalb von Gʼttes Führung passiert. Alles passiert, weil Gʼtt es lenkt, und nichts kann ohne Gʼtt passieren. Die Esther-Rolle heißt auf Hebräisch »Megillat Esther«. Das Wort »Megilla« (deutsch: Rolle) ist eng verwandt mit dem Wort »Megale«, welches »offenbaren« bedeutet. Der Name der Protagonistin Esther ist eng verwandt mit dem Wort »Hester«, welches Verborgenheit bedeutet. Esther-Rolle kann also auch als »Offenbarung in der Verborgenheit« gelesen werden.

Es geht darum, Gʼtt zu sehen, zu offenbaren, eben dann, wenn er nicht sichtbar ist. Vielleicht tragen wir deswegen auch Masken und Kostüme während des Purimfestes. Die Botschaft ist: Die Natur verbirgt etwas, sie trägt ein Kostüm, hinter dem Kostüm verbirgt sich der Schöpfer, unser liebender und barmherziger Vater.

Ein Rabbi soll einmal gesagt haben: »Die Aufgabe jedes Einzelnen ist es, die Esther-Rolle seines eigenen Lebens zu schreiben.« Die kleinen und unscheinbaren Zufälle in einen Zusammenhang zu stellen und zu sehen, wie Gʼtt durch einen kleinen Zufall den Lauf unseres gesamten Lebens verändert hat.

Pessach steht für das sichtbare Wunder

Auf der anderen Seite steht das Pessachfest für das sichtbare Wunder. Gʼtt spricht, Gʼtt offenbart sich. Die Naturgesetze werden vollkommen auf den Kopf gestellt, und selbst der Pharao kann am Ende gar nicht anders, als den Gʼtt der Hebräer anzuerkennen und seinem Befehl zu gehorchen.

Das ist eine Art der Erlösung und Gʼtteserkenntnis, die uns in der jetzigen Epoche verwehrt ist, aber die mit der Ankunft des Maschiach wieder aktuell werden soll, in einer Zeit, über die es heißt: »Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist voll Erkenntnis Gʼttes, wie Wasser das Meer bedeckt« (Jeschajahu 11,9).

Auf den ersten Blick könnten die Erlösungen von Purim und Pessach unterschiedlicher nicht sein. Dennoch wollen die Weisen, dass diese Feste zusammenbleiben, von uns als etwas miteinander Verbundenes gesehen werden, was in der Halacha mit der Wahl des zweiten Adars seinen Ausdruck findet. Denn Wunder und Natur sind eins!

Dies ist die zentrale Botschaft der Tora, die sich auch im Glaubensbekenntnis widerspiegelt: Die Mystiker erklären, dass der Name »Adonai« das G’ttliche symbolisiert, das sich auf wundersame und übernatürliche Art und Weise fortwährend manifestiert. Der Name »Elohim« steht für das Gʼttliche, das sich im alltäglichen Leben zeigt. Unser Glaubensbekenntnis lautet: »Höre Israel, Adonai ist unser Elohim. Adonai ist der Einzige« (5. Buch Mose 6,4). Höre Israel – das Natürliche und das Übernatürliche sind eins!

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