Toldot

Zwei Völker

Schwangerschaft: Ultraschall-Aufnahme von Zwillingen Foto: Getty Images

In Paraschat Toldot beginnt die Geschichte Jizchaks. »Jizchak war 40 Jahre alt, als er Riwka zur Frau nahm« (1. Buch Mose 25,20). Das Paar hatte Schwierigkeiten, Kinder zu bekommen: »Und Jizchak flehte zum Ewigen für seine Frau, denn sie war unfruchtbar; und der Ewige ließ sich erflehen, und seine Frau Riwka wurde schwanger. Es stießen sich aber die Kinder in ihrem Inneren, dass sie sprach: ›Wenn dem so ist, wozu habe ich es denn gewünscht?‹ Und sie ging hin, den Ewigen zu befragen« (25, 21–22).

Der Midrasch erklärt anhand der Genealogien, dass der Sohn und der Urenkel von Noach, Schem und Ewer, zu dieser Zeit noch am Leben waren, und sie hatten einen Bet Midrasch, ein Lehrhaus. Dorthin ging Riwka, um den Ewigen zu fragen, was es mit dem ungewöhnlichen Phänomen in ihrem Bauch auf sich hat.

Midrasch Sie wusste nicht, dass sie Zwillinge erwartete. Der Midrasch (Jalkut Schimoni 110) erklärt, dass sie, wenn sie an einem Ort des Götzendienstes vorbeikam, das Gefühl hatte, das Kind würde gern herauskommen. Doch glaubte sie auch dann, wenn sie am Lehrhaus von Schem und Ewer vorbeikam, das Kind wolle herauskommen. Das verwirrte sie. War das Kind, das sie trug, nun dazu bestimmt, ein Götzendiener zu werden oder ein Diener des Ewigen?

Um eine Antwort darauf zu finden, ging sie zu Schem und Ewer. Die beiden Männer antworteten ihr im Namen G’ttes: »Zwei Völker sind in deinem Leib, zwei Stämme scheiden sich aus deinem Schoß. Ein Stamm wird stärker als der andere sein, der Ältere wird dem Jüngeren dienen« (1. Buch Mose 25,23).

Woher wussten die ungeborenen Söhne, in welche Richtung sie gehen würden? Rabbiner Yerucham Levovitz (1873–1936) sagt, dass uns, genauso wie wir materielle Sinne haben, auch ein spiritueller Sinn gegeben ist. Doch selbst wenn die Föten in der Lage waren, zu spüren, wo sie waren, wie hätten sie versuchen können zu fliehen?

Wir alle wissen, dass ungeborene Babys gegen die Gebärmutterwand treten und sich bewegen. Also war es vielleicht Zufall, dass sie es gerade dann traten, als Riwka vor einem Lehrhaus oder an einem Haus des Götzendienstes vorbeikam.

Fötus Was aber brachte Riwka dazu zu sagen: »Wenn dem so ist, wozu habe ich es denn gewünscht?« Rabbiner Jerachmiel Jissrael Jizchak Danziger (1853–1910) zitiert in seinem Buch Jissmach Jissrael das talmudische Prinzip, dass ein Fötus Teil seiner Mutter ist. Wenn die Mutter hungrig oder traurig ist, ist es auch der Fötus.

So kam es, dass Jakow in Riwkas Bauch drängelte, als sie glücklich war, weil sie an einem Lehrhaus G’ttes vorbeiging. Da das Kind die Heiligkeit des Ortes spürte, sah das Gedränge für sie so aus, als würde es versuchen zu gehen.

Riwka fragte sich, ob sie einen Diener des Ewigen oder einen Götzendiener trägt.

Als Riwka vor dem Haus des Götzendienstes vorbeikam, fühlte sie Traurigkeit. Aber entgegen den Erwartungen empfand der Fötus Freude. Esaw war begierig darauf, an einen Ort des Götzendienstes zu flüchten. Weil das Riwka verwirrte, »ging sie, den Ewigen zu befragen«.

einflüsse Es wird erzählt, dass Rabbiner Mosche Schreiber aus Preßburg, der Chatam Sofer (1762–1839), sehr genau darauf bedacht war, mit wem seine Kinder spielten. Sie sollten den richtigen Einflüssen ausgesetzt sein. Um zu erklären, warum, zitierte er den obigen Toraabschnitt von Jakow und Esaw, wie sie sich in Riwka stießen, und er zitierte den Midrasch, der davon berichtet, dass die beiden Föten versuchten, an ihrem jeweiligen Lieblingsort zu sein.

Der Chatam Sofer stellte dann die folgende Schwierigkeit dar: Esaws Bedürfnis zu fliehen, ist durchaus verständlich. Denn nach Meinung der Rabbiner des Talmuds steht jedem Fötus während seiner Zeit im Mutterleib ein persönlicher Engel zur Seite, mit dem er ununterbrochen Tora lernt, um sich auf diese Welt vorzubereiten.

Wenn dem so ist, warum verspürte dann auch Jakow den Drang zu fliehen? Der Chatam Sofer meint: Wenn man mit Esaw zusammen ist, hilft es nicht, von einem persönlichen Engel zu lernen. Denn man ist einem Gruppenzwang ausgesetzt, auch wenn man gute Absichten hat und sich ausschließlich auf moralisch akzeptierte und ethisch korrekte Werte konzentriert.

rom Dies ist wahrscheinlich eine der wichtigsten Aussagen für unsere heutige Generation. Unsere Weisen erklären, dass die Welt der westlichen Gesellschaft aus Esaw hervorgegangen ist, der später Edom hieß und zum geistigen Urvater des Römischen Reiches wurde.

Die europäische und westliche Kultur fußt auf dem Römischen Reich. Eine kleine Gruppe der Nachkommen von Jakow lebt unter den vielen, vielen Nachkommen von Esaw. Das soll nicht heißen, dass die heutige europäische Gesellschaft böse ist. Nein! Aber es bedeutet, dass vieles – auch wenn immer von jüdisch-christlichen Werten gesprochen wird – zwar mit der jüdischen Ethik verbunden ist, aber neu definiert wurde und nicht mehr den ursprünglichen Werten des Judentums entspricht.

Dies spiegelt sich auch heute im Alltag wider. Die jüdische Gemeinde steht unter starkem Gruppenzwang, sich so zu präsentieren, wie es die Gesellschaft will. Rabbiner Mosche Schreiber lehrt uns, dass wir diesem Druck standhalten müssen. Wir sollten uns in jeder Situation fragen, ob unsere Reaktion tatsächlich richtig ist und auch wirklich der Ethik der Tora entspricht.

Der Autor ist Landesrabbiner der jüdischen Gemeinden von Sachsen und Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland.

inhalt
Der Wochenabschnitt Toldot erzählt von der Geburt der Zwillinge Esaw und Jakow. Für ein »rotes Gericht« erkauft Jakow von seinem Bruder das Erstgeburtsrecht. Wegen einer Hungersnot muss Jizchak das Land verlassen. Er geht zu Awimelech, dem König von Gerar. Dort gibt er seine Frau Riwka als Schwester aus, weil er um sein Leben fürchtet. Als Jizchak im Sterben liegt, will er Esaw segnen, doch er wird von Riwka und Jakow getäuscht und segnet so Jakow.
1. Buch Mose 25,19 – 28,9

Emor

Im Schadensfall

Wie die Tora lehrt, Menschlichkeit und Gerechtigkeit miteinander zu verbinden

von Jacob Rürup  16.05.2025

Talmudisches

Erinnern und Gedenken

Was unsere Weisen über die Dinge sagen, die wir im Gedächtnis bewahren sollen

von Rabbiner Netanel Olhoeft  16.05.2025

Berlin

»So monströs die Verbrechen der Nazis, so gigantisch dein Wille, zu leben«

Leeor Engländer verabschiedet sich in einer berührenden Trauerrede von Margot Friedländer. Wir dokumentieren sie im Wortlaut

von Leeor Engländer  15.05.2025

Schulchan Aruch

Mit Josef Karo am gedeckten Tisch

Ein mittelalterlicher Rabbiner fasste einst die jüdischen Gesetze so pointiert zusammen, dass viele Juden sich bis heute an seinem Kodex orientieren

von Vyacheslav Dobrovych  15.05.2025

Chidon Hatanach

»Mein Lieblingsbuch ist Kohelet«

Wie es zwei jüdische Jugendliche aus Deutschland zum internationalen Bibelwettbewerb nach Israel geschafft haben

von Mascha Malburg  15.05.2025

Vatikan

Leo XIV. schreibt an Oberrabbiner in Rom

Eine seiner ersten persönlichen Botschaften hat Papst Leo XIV. an die Jüdische Gemeinde Rom geschickt. Und eine gute und enge Zusammenarbeit versprochen

von Anna Mertens  13.05.2025

Acharej Mot – Kedoschim

Nur in Einheit

Die Tora lehrt, wie wir als Gemeinschaft zusammenleben sollen

von Rabbiner Raphael Evers  09.05.2025

Talmudisches

Von reifen Feigen

Wie es kam, dass Rabbi Josi aus Jokrat kein Mitleid mit seinen Kindern hatte

von Rabbiner Avraham Radbil  09.05.2025

Philosophie

»Der kategorische Imperativ liebt weder dich noch mich«

Die deutsch-jüdische Aufklärung hat einen gefährlichen Golem erschaffen, behauptet Michael Chighel in seinem neuesten Werk. Sein ehemaliger Schüler hat es gelesen und kritisch nachgefragt

von Martin Schubert  09.05.2025