Talmudisches

»Zur Rede stelle deinen Nächsten«

Sinn der Mizwa ist es, den irrenden Glaubensgenossen auf den rechten Weg zurückzuführen. Foto: Thinkstock

In der Tora lesen wir: »Hasse deinen Bruder nicht in deinem Herzen. Zur Re­de, wiederholt zur Rede stelle deinen Nächsten, lade aber darob nicht Sünde auf dich« (3. Buch Mose 19,17). Die hier erwähnte Pflicht ist nach Maimonides (1135–1204) eine der 613 Mizwot.

Praxis Im Talmud (Erechin 16b) finden wir erstaunliche Bemerkungen über das Gebot der Zurechtweisung eines Sünders. Bemerkenswert sind Feststellungen von Tannaiten über die Praxis. »Rabbi Tarfon sagte: ›Es würde mich wundern, wenn es in diesem Zeitalter jemand geben sollte, der Zurechtweisung annimmt. Sagt man zu einem: Nimm den Splitter, der zwischen deinen Augen, so erwidert er: Nimm du den Balken, der zwischen deinen Augen.‹ Da sagte Rabbi Eleazar Ben Azaria: ›Es würde mich wundern, wenn es in diesem Zeitalter jemand geben sollte, der zurechtzuweisen versteht.‹«

Die beiden Rabbinen wollten darauf aufmerksam machen, dass das Maßregeln nur dann möglich und sinnvoll ist, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Bevor man dieses Gebot auszuüben versucht, muss man allerdings die Regeln kennen, die in der Praxis zu beachten sind, sonst kann man großen Schaden anrichten.

Sinn dieser Mizwa ist es, den irrenden Glaubensgenossen auf den rechten Weg zurückzuführen. Man sollte ihm deutlich machen, dass er durch seine schlechten Taten gegen sich selbst gesündigt hat. Dieses Ziel kann man natürlich nur dann erreichen, wenn beide Seiten korrekt miteinander umgehen. Wird zum Beispiel der Gemaßregelte beschämt, dann versündigt sich der Zurechtweisende. Rabbi Eleazar Ben Azaria hat auf diese Gefahr deutlich hingewiesen: Zurechtweisen ist eine Kunst, die gelernt sein will.

Maßregeln Israels früherer Oberrabbiner Ovadia Yosef (1920–2013) hat mehr als einmal gesagt, dass man Juden, die den Schabbat entweihen, indem sie am Ruhetag Auto fahren, keineswegs anschreien darf. Denn die Autofahrer verstünden nicht, was man ihnen sagt. Es sei daher nicht geboten, sie zu ermahnen. Der Protest erzeuge lediglich Hass auf die Zurechtweisenden, auch wenn diese nur von einer guten Absicht geleitet würden. Man müsse gerade beim Maßregeln stets die Folgen mitbedenken.

Andererseits sollte jeder auch bedenken, dass die Unterlassung einer Zurechtweisung eine Sünde sein kann. Maimonides stellt in seinem halachischen Kodex fest: »Wer einem Unrecht Einhalt gebieten könnte und unterlässt es, macht sich mitschuldig, da er ihm ja hätte wehren können« (Hilchot Deot 6,7).

Rabbiner Mosche Sternbuch bemerkte einmal, dass die stummen Granatäpfel am Saum des Mantels, den der Hohepriester im Heiligtum zu tragen hatte (2. Buch Mose 28, 33–35), Sühne für Vorkommnisse sündigen Schweigens bewirkten.

Maimonides Bekanntlich haben Israels Propheten die Menschen im Auftrag G’ttes oft zurechtgewiesen, um sie auf den Weg der Teschuwa (Umkehr) zu bringen. Aus dieser historischen Tatsache leitet Maimonides die Anweisung ab: »Jede Gemeinde soll einen sehr weisen und erfahrenen Mann, der seit seiner Jugend g’ttesfürchtig war und beim Volk beliebt ist, anstellen, damit er das Volk öffentlich ermahne und es zur Teschuwa veranlasse« (Hilchot Teschuwa 4,2).

Es ist beachtenswert, welche Eigenschaften der Rabbiner nach Maimonides’ Auffassung haben soll: sehr weise und erfahren, g’ttesfürchtig von Jugend an und beim Volke beliebt. Diese Kombination ist durchaus möglich, aber gewiss nicht leicht zu finden.

Der babylonische Amoräer Abaje wusste um die Problematik der Beliebtheit eines Toragelehrten. Er sagte: »Lieben die Einwohner der Stadt einen Gelehrten, so geschieht dies nicht, weil er besser ist, sondern deshalb, weil er sie nicht zurechtweist in g’ttlichen Angelegenheiten« (Ketubot 105b). Es ist also festzuhalten: Das Zurechtweisen gehört zu den Aufgaben eines Gemeinderabbiners.

Chol Ha-Moed

Grund allen Seins

Die 13 Middot, die »Gʼttlichen Eigenschaften«, enthalten universelle Verhaltensnormen für alle Menschen

von Rabbiner Joel Berger  26.04.2024

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Korban Pessach

Schon dieses Jahr in Jerusalem?

Immer wieder versuchen Gruppen, das Pessachopfer auf dem Tempelberg darzubringen

von Rabbiner Dovid Gernetz  22.04.2024

Pessach

Kämpferinnen für die Freiheit

Welche Rolle spielten die Frauen beim Auszug aus Ägypten? Eine entscheidende, meint Raschi

von Hadassah Wendl  22.04.2024

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024