Schawuot

Zentralisierter Kult

Ein Modell im Jerusalemer Israel-Museum zeigt den Zweiten Tempel wenige Jahre vor seiner Zerstörung. Foto: Getty Images/iStockphoto

Wie ist die Beziehung zwischen dem durchschnittlichen Israeliten und Gott? Der Text der Tora hört sich so an, als ob jeder Einzelne ein Landwirt wäre: Da gibt es einen, der Getreide hat, das aus Samen wächst, oder der Felder besitzt, auf denen Pflanzen wachsen, damit sie geerntet werden können. Dann gibt es diejenigen, die Schaf- oder Kuhherden haben und vielleicht auch Hirten und Sklaven beschäftigen.

Ihr Reichtum definiert sich über das, was man essen kann: Rindfleisch, Hammelfleisch, Ziegen. Und wenn sie überhaupt Land besitzen, dann als Weide, damit die Pflanzen dort, wo sie sind, von den Tieren gefressen werden können. In beiden Fällen gibt es jahreszeitliche Zyklen, in denen die Pflanzen gesät, gepflegt und geerntet werden oder in denen die Jungtiere geboren werden und heranwachsen.

Landwirt Der Landwirt ist in ständigem Kontakt mit dem Leben, mit Pflanzen und Tieren. Und obwohl das Leben eines Landwirts hart und voller Risiken ist, erscheint es vielen von uns als idyllisch im Vergleich zu den stressigen Großstädten, in denen wir leben. Schlechtes Wetter, Räuber, Raubtiere, Krankheiten – all das kommt in den biblischen Geschichten kaum vor, es sei denn als potenzieller Fluch, wenn der Israelit es durch mangelnde Großzügigkeit gegenüber den Leviten oder den Armen versäumt, Gott für die Wohltaten, die er genießt, Anerkennung zu zollen.

Schawuot war einst vor allem ein landwirtschaftliches Fest. Während es in einigen Kibbuzim noch Reste davon gibt, ist diese Bedeutung für die meisten Juden inzwischen verloren gegangen. Wir kaufen unser Fleisch in Geschäften, backen unser Brot nicht mehr selbst, essen Gemüse aus Dosen oder tiefgefroren. Wir sehen unsere Lebensmittel fast nie lebendig, sondern tot und verpackt. Eine Folge dessen ist, dass uns jede Form der Gottesverehrung, die das Töten von Tieren oder das Besprengen mit Blut beinhaltet, fremd erscheint, ja zum Teil gar ekelhaft, während das Schlachten einer Ziege in früheren Zeiten eine fast alltägliche Angelegenheit war und jeder wusste, was dazu gehört und wie man es macht.

Die Verse des Wochenabschnitts Reʼeh in den Kapiteln 14 bis 16 im 5. Buch Mose enthalten viele Gebote, die den Armen, den Schuldner, den Fremden, den hebräischen Sklaven und andere stärker betreffen – aber immer wieder finden wir Anklänge an eine landwirtschaftliche Gesellschaft sowie an die Feste Pessach, Schawuot und Sukkot. Wir lesen, wie sie mit Freude und Dankbarkeit durch das Darbringen der Ernte und durch das Schlachten und Essen von Tieren gefeiert werden sollen.
Eine interessante Ausnahmeregelung sind die Verse 24 und 25 in Kapitel 14. Sie beschreiben das mögliche Problem eines Israeliten, der zu weit vom Tempel entfernt wohnt, um ihn zu erreichen, wenn die (pflanzlichen) Opfergaben noch frisch sind.

problem Dies ist ein Problem, weil ein bestimmter Ort definiert wurde, an dem die Opfergaben dargebracht werden sollen und an keinem anderen. Ein zentralisierter Kult, ein festgelegter Kultort bedeutet einen geografischen Fixpunkt. Auch wenn Gott überall ist, auch wenn die Israeliten weit davon entfernt leben und den Boden bestellen oder ihr Vieh hüten – sie haben keine andere Möglichkeit, als zum Fest an diesen Ort zu gehen. Es zählt deshalb zu den Festen, an denen man nach Jerusalem pilgerte.

Die an einen einzigen Ort gebundene Verehrung eines universellen Gottes ist ein Kontrast, ein Widerspruch, den das Judentum seit jeher geplagt hat. Denn im Laufe der jüdischen Geschichte kam es zweimal vor, dass der Ort, an dem sich der Tempel befand, nicht mehr zugänglich war und Alternativen gefunden werden mussten.

Die Juden, die aus ihrem Land vertrieben wurden, sahen sich anderen Umständen gegenüber als die Israeliten in der Wüste, die ein fruchtbares Land erobern wollten. Was war der Kompromiss? Eine auf Geld basierende Bewertung. An die Stelle der lebenden Tiere oder der kürzlich geernteten Früchte trat eine bestimmte Summe Geld.

Offenbarung Ohne Land, ohne Tempel – was dann? Welche Beziehung zu Gott kann man da finden? Schawuot wurde zu einem Fest der Offenbarung, einem Fest, das an die Gabe der Tora erinnert.
Interessanterweise wurde nie versucht, eine Wallfahrt zum Sinai einzuführen. Die Offenbarung hatte »damals« stattgefunden, und nun sollten die Israeliten nach vorn schauen, nicht zurück.

Später setzten die Rabbiner den Vorwärtsmarsch des Fortschritts fort, indem sie Synagogen errichteten und Gemeindezentren, in denen Gott ohne die Notwendigkeit der alten rituellen Opfer angebetet werden konnte. Doch nun, da Jerusalem wieder in den Händen frommer Juden ist, stellt sich für einige erneut die Frage, ob die alten Formen der Anbetung am alten Ort und in einer wieder aufgebauten Infrastruktur wiederbelebt werden sollten.

Das Judentum basiert heute auf dem Glauben an einen universellen Gott, nicht an einen, der nur in einem Komplex großer Steine auf einem staubigen Platz in Jerusalem zu Hause ist. Die Verehrung »heiliger Steine« ist etwas, das die Propheten lautstark verurteilen würden, und das zu Recht.

Der Tempel war zu seiner Zeit wichtig, aber diese Zeit ist lange her. Statt Opfer oder Geld nach Jerusalem zu bringen, ist die Tora von Jerusalem ausgegangen und hat sich überall dort verbreitet, wo Juden leben, arbeiten und beten.

SYNAGOGEN »Tora miSinai« (deutsch: Tora vom Sinai) ist nicht auf ein Gebiet in einer Stadt in einer Region des Nahen Ostens beschränkt. Die Tora wurde gegeben, damit sie verbreitet, gelesen und beachtet wird. Leider wird sie in vielen Synagogen nicht gelesen, übersetzt und erklärt (wie es die Mischna im Traktat Megilla von den Lesern verlangt), sondern mit hoher Geschwindigkeit heruntergerasselt, sodass die gelangweilten Gottesdienstbesucher keinen Nutzen aus den Texten ziehen können.

Anstelle von »frischen Früchten der Tora« wird uns nur eine ausgetrocknete Version gebracht und dargelegt. Es wäre für das jüdische Leben hierzulande von großem Nutzen, wenn die »Baʼalei Koreh« die heilige Aufgabe, die Tora zu lehren, ernster nehmen würden und nicht nur die sieben Alijot plus Segenssprüche so schnell wie möglich abspulen würden.

Denn wenn wir nicht aufpassen, müssen wir die Worte »Ki Mizijon teze Tora« (Jeschajahu 2,3) als »Die Tora hat Zion verlassen« verstehen, statt als »Sie hat sich von dort ausgebreitet«.

Nachdem wir seit Pessach sieben Wochen damit verbracht haben, uns auf diese Offenbarung vorzubereiten, und uns nicht mehr um eine Pilgerreise oder das Opfern von Jungtieren und Früchten kümmern müssen, sollten wir uns die Zeit nehmen, uns hinzusetzen und Tora zu lernen. Damit Schawuot zu einem »Chag Matan Toratenu« wird, einem Fest, an dem uns unsere Tora gegeben wurde.

Der Autor ist Rabbiner der egalitären liberalen Betergemeinschaft Gescher in Freiburg im Breisgau.

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