Mitgefühl

Wie soll ein Mensch das ertragen!

Grenzen setzen beim Nachrichtenkonsum: das Smartphone ausschalten Foto: Getty Images/iStockphoto

Wer in letzter Zeit hier bei uns in Israel das Fernsehen anschaltet, muss sich auf markerschütternde Szenen gefasst machen. Das pure Böse der Hamas, die die Geiseln vor ihrer Freilassung erniedrigt, das unermessliche Leid, von dem diese dann berichten, die Ohnmacht der Angehörigen, deren Kinder noch dort sind.

Auch Tali aus Deutschland, die hier anonym bleiben möchte, ringt mit dieser Realität. Sie fragt: »Rabbi, ich kann nicht mehr. Die Bilder der freigelassenen Geiseln, ihre Berichte – und die, die noch dort sind! Ich sehe sie vor mir, Tag und Nacht. Aber wenn ich wegsehe, plagt mich mein Gewissen. Seit Tagen meide ich die Nachrichten. Ist das falsch von mir?«

Eine Frage, die viele bewegt. Wo liegt die Grenze zwischen Mitgefühl und Überforderung? Ich will versuchen, Tali hier eine Antwort zu geben.

»Kein Herz kann zwei Dinge gleichzeitig aufnehmen.«

Viele Juden kennen die einfache Weisheit des Rabbi Nachman, der sagte: »Es ist eine große Mizwa, immer glücklich zu sein.« Das klingt unpassend in Zeiten des Leids, oder? Freude – mitten im Schmerz? Aber Rabbi Nachman ging es nicht um Verdrängung. Er wusste: Wenn du nur noch das Leid siehst, verlierst du die Kraft, etwas zu tun. Er sagte auch: »Kein Herz kann zwei Dinge gleichzeitig aufnehmen.« Mit anderen Worten: Wenn du dein Herz nur mit Schmerz füllst, bleibt kein Platz mehr für Hoffnung, Mut oder Handeln.

Die jüdische Tradition fordert uns auf, füreinander da zu sein (»Kol Israel Arevim Se Base« – ganz Israel ist füreinander verantwortlich). Aber sie verlangt nicht, dass wir uns selbst zerstören. Mitgefühl heißt demnach nicht, sich in der Dunkelheit zu verlieren – sondern trotz allem ein Licht zu bleiben.

Die Wissenschaft hat ein Wort für das, was viele gerade fühlen: Mitgefühlserschöpfung. Wenn du dich zu lange intensivem Leid aussetzt – durch Medien oder persönliche Erlebnisse –, kann dein Körper und Geist darauf mit Erschöpfung reagieren. Plötzlich fühlst du dich hilflos, ausgelaugt, vielleicht sogar taub. Studien zeigen: Ständiger Nachrichtenkonsum über Krisen kann zu »sekundärem Trauma« führen. Das bedeutet: Selbst wenn du nicht direkt betroffen bist, kann dein Gehirn auf all die schrecklichen Bilder reagieren, als wärst du mitten im Geschehen. Angst, Stress, Schlaflosigkeit – all das sind typische Folgen. Kein Wunder also, dass viele irgendwann nur noch abschalten wollen.

Wie bleibt man menschlich, ohne zu zerbrechen? Es geht nicht darum, wegzusehen – sondern darum, stark zu bleiben, um weiter helfen zu können. Hier einige Prinzipien: Setze Grenzen beim Nachrichtenkonsum. Informiere dich, aber dosiert. Kanalisiere deine Energie in Handlung. Spenden, beten, ehrenamtliche Hilfe – aktiv zu werden, gibt ein Gefühl der Kontrolle. Selbstfürsorge ist kein Luxus, sondern notwendig. Familie, Freunde, Gebete, Musik, Toralernen – all das hilft, mental stabil zu bleiben. Erinnere dich an die jüdische Perspektive: Mitgefühl bedeutet nicht Selbstaufgabe.

In der Schlussszene von Schindlers Liste bricht Oskar Schindler zusammen, als ihm bewusst wird, dass er vielleicht noch ein paar Menschen mehr hätte retten können. Doch die Überlebenden um ihn herum sagen: »Du hast so viele gerettet.«

Empathie ist wichtig, aber sie muss eben nachhaltig sein.

Und genau das ist der Punkt: Keiner kann alles tun, aber jeder kann etwas tun. Darf man sich also abgrenzen? Nicht nur darf man – man muss es sogar. Nur so bleibt man handlungsfähig. Empathie ist wichtig, aber sie muss eben nachhaltig sein. Die Kunst ist die Balance: nicht ganz abschotten, aber auch nicht in Schmerz ertrinken. Sich informieren, aber sich nicht zerstören. Mitfühlen, aber nicht die Kraft verlieren zu handeln.

Zum Schluss noch ein tröstendes Bild: Die Kraft des Glaubens ist wie ein Regenschirm. Er verhindert nicht den Regen, aber er hält dich trocken. Rabbi Nachman wusste: Der Regen wird kommen. Schmerz, Herausforderungen, Zweifel – all das ist Teil des Lebens. Aber dein Glaube, deine Hoffnung und bewusste Selbstfürsorge sind der Schirm, der dich davor schützt, durchnässt zu werden. Also: Halte deinen Schirm gut fest. Der Regen kommt sowieso – aber du hast etwas dagegen in der Hand.

Festakt

Ministerin Prien: Frauen in religiösen Ämtern sind wichtiges Vorbild

In Berlin sind zwei neue Rabbinerinnen ordiniert worden

 06.11.2025

Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

Was schon Rabbi Nachman über Künstliche Intelligenz wusste

von Rabbiner David Kraus  06.11.2025

Rezension

Orthodoxer Rebell

Sein Denken war so radikal, dass seine Werke nur zensiert erschienen: Ein neues Buch widmet sich den Thesen von Rabbiner Kook

von Rabbiner Igor Mendel  06.11.2025

Potsdam

Abraham-Geiger-Kolleg ordiniert zwei Rabbinerinnen

In Deutschlands größter Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg werden an diesem Donnerstag zwei Rabbinerinnen ordiniert. Zu der Feier wird auch Polit-Prominenz erwartet

 05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Awraham war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der gegen das Böse aufstand

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  31.10.2025

Talmudisches

Audienz beim König aller Könige

Was unsere Weisen über das Gebet und seine Bedeutung lehren

von Rabbiner Avraham Radbil  31.10.2025

Geschichte

Wer war Kyros der Große?

Manche behaupten, Donald Trump sei wie der persische Herrscher, der den Juden die Rückkehr nach Jerusalem erlaubte. Was hinter dem Vergleich steckt

von Rabbiner Raphael Evers  30.10.2025