Schawuot

»Wie geht das mit 613 Geboten?«

Die Tradition sagt: Indem Gott dem Volk Israel die Tora übergab, hat er es zu seinem auserwählten Volk gemacht. Kein einfaches Thema für Jugendliche. Foto: Thinkstock

Michel (17) und Yoel (15) sind entspannt. Das Jugendzentrum »Neshama« der Israelitischen Kultusgemeinde München (IKG), vor dem wir uns treffen, ist für sie fast wie ein zweites Zuhause. Yoel ist bei Neshama seit seiner Kindheit aktiv, und auch Michel hat im ersten Stock mit anderen jüdischen Jugendlichen schon viel erlebt.

Wann immer es geht, ist Yoel mit dem Fahrrad unterwegs. Er besucht das Münchner Luitpold-Gymnasium, auf das viele jüdische Jugendliche in München gehen – weil da auch jüdischer Religionsunterricht angeboten wird. Michel ist im ersten Ausbildungsjahr zum Heilpraktiker (was ihm ausgesprochen gut gefällt) und trägt eine coole Jacke mit einem noch cooleren Spruch auf dem Rücken.

Schawuot steht vor der Tür – ein Fest mit vielen Facetten. An Schawuot, das in diesem Jahr auf das Pfingstwochenende fällt, wurde den Israeliten laut Überlieferung die Tora am Berg Sinai gegeben. Jeder Jude, auch der, der noch geboren wird, soll bei diesem aufregenden Ereignis dabei gewesen sein. Die Tradition sagt: Indem Gott dem Volk Israel die Tora übergab, hat er es zu seinem auserwählten Volk gemacht. Kein einfaches Thema für Jugendliche.

Was bedeutet das für euch, zum »auserwählten Volk« zu gehören?
Yoel: Auserwählt zu sein, heißt für mich vor allem, dass wir, dass das jüdische Volk gesagt hat: »Ja, wir nehmen die verschiedenen Mizwot an.« Uns war nämlich durchaus bewusst, dass mit der damit verbundenen »Arbeit« eben auch gute Dinge einhergehen, wie zum Beispiel Feiertage und gutes Zusammenleben.

Könnt ihr euch vorstellen, dass der Ausdruck »auserwähltes Volk« auf Nichtjuden befremdlich wirken kann? Oder dass er missverstanden wird?
Michel: Ja, natürlich. Höchstwahrscheinlich wird er missverstanden. Gerade Leute in unserem Alter können da irgendwie heraushören: »Aha, die meinen, sie seien das Volk überhaupt. Und alle anderen sind nur so der Rest.« Es wird bestimmt von vielen irgendwie negativ gedeutet, stelle ich mir vor.

Wenn du unterschwellige Kritik, vielleicht Missgunst, in dieser Richtung mitbekommen würdest, Michel, wie würdest du rea­gieren?

Michel: Ich nehme meine Religion, meine Kultur erst einmal in Schutz. Das ist wie ein Reflex. Aber danach würde ich anfangen, mit denen zu diskutieren. Ich würde versuchen, zu erklären, was da dahintersteckt. Sodass die anderen zumindest interessiert sind und daheim die Sache dann googeln.

Das jüdische Volk hat die Tora bekommen. Die anderen monotheistischen Religionen, das Christentum und der Islam, haben sie als eine ihrer Heiligen Schriften übernommen. Welche Bedeutung hat das für euch?
Michel: Na ja, das ist etwas Großes. Wir sind im Besitz der ersten Gebote, der ersten schriftlichen Zeugnisse davon. Das macht mich stolz. Damit kann man doch sogar angeben, und das tue ich auch. (lacht) Aber die anderen, die verstehen das auch. Ihnen ist einfach klar, das Judentum ist die erste monotheistische Religion. Das lässt sich kaum bestreiten.

Aber ist da nicht auch etwas anderes? Mit 613 Geboten muss man ja erst einmal zurechtkommen. Das könnte ja auch ganz schön belastend wirken, diese Verpflichtung, nach den Geboten zu leben ...
Yoel: Klar, das ist schon viel, diese ganzen Gebote, die man einhalten sollte, und die man auch mehr oder weniger einhält. Aber das jüdische Volk hat sich nun einmal entschieden, die Tora zu akzeptieren. Ich sehe das als eine Art Kompromiss oder Handel oder so. Wir bekommen als auserwähltes Volk die Tora, dafür müssen wir dann aber auch ihre Gebote einhalten. Außerdem muss man ja auch längst nicht jedes Gebot als Last ansehen. Zum Beispiel unsere Feste, also unsere Traditionen, damit sind ja auch gewisse Verpflichtungen verbunden ... Nehmen wir Chanukka, da ist ja genau festgelegt, wie man das feiern soll, jeden Abend die und nicht die Kerze anzünden, und am Ende ist es dann doch etwas sehr Schönes, wenn die Familie so zusammen feiert.
Michel: Ich empfinde die 613 Gebote, wenn ich ehrlich bin, in der heutigen Zeit nicht mehr so richtig als Verpflichtung, was aber nichts an dem hohen Stellenwert ändert, den die Tora für mich hat. Wie soll das heute noch gehen, das mit den 613 Geboten? Natürlich gibt es immer wieder diese Machanot, unsere Ferienlager, bei denen wir versuchen, das alles einzuhalten, und mir gefällt das dann wirklich auch immer total. Aber der Alltag ist einfach ein ganz anderer.
Yoel: Ich empfinde es bis heute als eine große Verpflichtung, die Tora einzuhalten. Man soll doch nicht umsonst das auserwählte Volk sein. Und da trägt auch schon die jüngere Generation Verantwortung. Wir sind dafür verantwortlich, dass der jüdische Glaube weiter existiert. Dass er nicht untergeht. Gewisse Aspekte der Tora sollten wir einhalten, damit die nächsten Generationen noch in den Genuss des Judentums kommen. Auserwählt zu sein, ist für mich auch ein Zeichen dafür, dass man jemandem etwas zutraut. Es ist so etwas wie ein Lob. Aber es ist damit auch gleichzeitig Verpflichtung. Und wenn man seinen Pflichten entspricht, dann kommt man dem Auserwähltsein noch näher.

Mit Yoel und Michel sprach Katrin Diehl.

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Wajigasch

Mut und Hoffnung

Jakow gab seinen Nachkommen die Kraft, mit den Herausforderungen des Exils umzugehen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2025

Mikez

Füreinander einstehen

Zwietracht bringt nichts Gutes. Doch vereint ist Israel unbesiegbar

von David Gavriel Ilishaev  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025