Elul

Wie Freiheit entsteht

An Jom Kippur fühlen uns von allen Verunreinigungen des vergangenen Jahres befreit. Foto: Getty Images

Am 27. August verabschieden wir uns vom Trauermonat Aw. Am Tag darauf begehen wir Rosch Chodesch Elul, den ersten Tag des gleichnamigen Bußmonats. Nach dem mittelalterlichen Rabbiner David Awudraham (Mate Mosche 335) sind die vier hebräischen Buchstaben des Wortes Elul (also das Alef, das Lamed, das Wav und das zweite Lamed) die Anfangsbuchstaben eines bekannten Satzes aus Schir Haschirim, dem Hohelied, in dem die Liebe zwischen G’tt und dem jüdischen Volk besungen wird: »Ich bin für meinen Geliebten da, und mein Geliebter ist für mich da« (6,3).

Aber es geht um mehr, und zwar um die Anbindung an den Allmächtigen – auf diese Formel ließen sich, kurz gesagt, diese 40 Tage der Einkehr und der Reue bringen. Wir bezeichnen dies mit dem Wort »Dwekut«, was sich am besten mit »Treue« und »Verbundenheit« übersetzen lässt. Dies wird in einem eindrucksvollen Vers mit vier Geboten (5. Buch Mose 10,20) zusammengefasst: »Fürchte deinen G’tt, diene Ihm, halte an Ihm fest und schwöre bei Seinem Namen.« Letztlich geht es darum, unsere Verbindung mit dem Allmächtigen wieder zu festigen. Ehrfurcht und Furcht vor G’tt sollen im Mittelpunkt stehen – aber: Mit zunehmender Religiosität überwiegen Liebe und Freude.

Aus Sicht der Tradition gab es erstmals einen Monatsanfang Elul im ersten Jahr nach dem Auszug aus Ägypten, genau an jenem Tag, an dem Mosche, nachdem er die Steintafeln zerbrochen hatte, erneut auf den Berg Sinai stieg, um nach der Sünde des Goldenen Kalbes Sühne für das jüdische Volk zu erbitten. Erst 40 Tage später, am ersten Jom Kippur der Geschichte, vergab G’tt die Sünde des Goldenen Kalbes, und Mosche erhielt zwei neue Steintafeln.

TISCHA BEAW Eigentlich fängt die Bußzeit viel früher an, und zwar mit Tischa beAw, dem Trauertag, bei dem der Zerstörung der beiden Tempel in Jerusalem gedacht wird. Tischa beAw markiert den Beginn eines Prozesses der Teschuwa, der Reue und Umkehr. Dieser dauert bis Sukkot, dem Laubhüttenfest. Von der intensiven Phase der Trauer wechseln wir schließlich zu einer Zeit überschwänglicher Freude.

Zu Tischa beAw machen wir also Teschuwa aus bitterem Kummer. An Rosch Haschana und Jom Kippur dagegen folgt die Teschuwa aus Ehrfurcht und Ehrerbietung vor G’tt. Zu Sukkot schließlich begehen wir Teschuwa aus Liebe und Freude.

Letztlich ist es zentral, unsere Verbindung mit dem Allmächtigen wieder zu festigen.

Das Ganze ist eine Art aufsteigende Linie, durch die wir stets mehr und mehr mit G’tt sowie unseren Mitmenschen und uns selbst in Einklang kommen. Dazu gibt für 40 Tage das Schofar die Atmosphäre vor: vom ersten Elul bis zum Höhepunkt an Jom Kippur. Wenn wir die Symbolik des Schofars, wie sie in der Tora vorkommt, verstehen, können wir die wahre Bedeutung des Schofar­blasens erkennen. Und das Blasen an Jom Kippur erklärt retrospektiv ebenfalls, was das Blasen des Schofars im Elul eigentlich bedeutet.

WIDERSACHER Die Tora nennt zwei Quellen, welche die Gründe für das Schofarblasen an Jom Kippur erläutern. Zum einen ist der Klang der Trompeten zu nennen, wenn das Volk zum Kampf aufgerufen wird. »Fürchte dich!«, lautet die Botschaft ganz offensichtlich. Das Schofar des vierten Buches der Tora (10,9) ist also ein Alarmton: »Wenn ihr in eurem Land in den Krieg zieht gegen den Widersacher, müsst ihr die Trompeten mit einem unterbrochenen Ton blasen. Dann wird man vor deinem G’tt an dich denken, und du wirst von deinen Feinden erlöst werden.« In diesem Ton schwingen alle Unwägbarkeiten des Lebens und des Todes mit.

Das zweite Schofar ertönte an Jom Kippur im Joweljahr, dem 50. Jahr: »Am zehnten Tag des siebten Monats sollst du mit dem Horn des Widders einen Ausruf machen« (3. Buch Mose 25,8). Freiheit! Rehabilitierung und Wiederherstellung des Rechts – so scheinen hier die Botschaften zu lauten. Das Schofar verkündet, dass Grundbesitz, der in Notsituationen verkauft werden musste, an seine ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben werden soll. Auch Sklaven und Schuldner, die anderen gesellschaftlichen Underdogs, dürfen sich freuen: Sie erhalten ihre Freiheit, und alle Schulden werden erlassen.

SKALA Im Talmud (Rosch Haschana 33b/34a) wird das Schofar an Jom Kippur aus zwei Hauptgründen eingesetzt: Kampf und Frieden. So sind die ersten 30 Tage eine vorbereitende Phase in der Auseinandersetzung mit unserem inneren Feind: dem Jetzer Hara, Satan und dem ewigen Problem der Wahl zwischen einem Leben, das sich an den Werten Disziplin, Moral und Idealen orientiert, und einer eher hedonistischen Existenz, die nur Lust, Leidenschaft und Versuchungen als Kategorien kennt.

Der Kampf gegen den Jetzer Hara beginnt mit einem Monat geistiger Übungen und Drills für die finale Schlacht zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur. Der Zweck dieser Zeit ist die Selbstreflexion, die zu innerer Stärkung führen soll und einem Training in Sachen Moral gleichkommt.
Die 30 Tage des Elul sind nur eine Vorbereitung. Mit dem Schofar von Rosch Haschana hat die eigentliche Schlacht begonnen, und wir können unserem geistigen Feind in die Augen sehen. Mit Rosch Haschana und Jom Kippur feiern wir aber auch die Erschaffung der Welt, »hajom harat olam«, den Beginn einer neuen Welt.

ZIEL Wiedergeburt, Umgestaltung sowie Erneuerung, so lauten die Vorgaben. An Rosch Haschana gibt es einen Neumond, der ein Symbol für das Licht in der Dunkelheit ist. Aber das erlösende Element scheint kaum sichtbar. Das echte Ziel aber ist das Schofar an Rosch Haschana. So jedenfalls steht es in der Tora. Hier fängt alles erst richtig an. Das Schofar ist der spirituelle Weckruf, eine Aufforderung, uns zu stärken, um das Positive und Gute in der Welt aufzubauen.

Unser ganzes Wesen ist vergeistigt, wir fühlen uns frei von lästigen irdischen Dingen.

Nach den vorbereitenden Tagen von Elul folgen die »Asseret Jemei Hatschuwa«, die zehn Tage der aufrichtigen Buße, der Reue und der Einkehr. Das neue Jahr hat bereits begonnen.

Jom Kippur ist dann das letzte Stadium und steht am Ende dieses Prozesses. Wir haben uns manchem Prozedere unterworfen. So haben wir zehn Tage hinweg für unsere spirituelle und menschliche Erhebung gekämpft, weshalb wir uns dieser höheren Welt so nahe fühlen, dass wir 25 Stunden lang auf Essen und Trinken, Schuhe und andere irdische Wünsche verzichten können. Unser ganzes Wesen ist vergeistigt, wir fühlen uns frei von diesen lästigen irdischen Dingen, die an uns zerren. Etwas Subtiles, die Stimme unseres wahren Selbst, die nur derjenige vernehmen kann, der nicht mehr von seinen körperlichen Instinkten abhängig ist, kommt zum Vorschein.

WAHRHEIT An Jom Kippur werden wir diese Befreiung erfahren haben, denn »an diesem Tag wird G’tt euch vergeben und euch von euren Unvollkommenheiten reinigen; ihr werdet gereinigt vor G’tt stehen«.
Ja, wir fühlen uns von allen Verunreinigungen des vergangenen Jahres befreit. Das Schofar soll uns am Ende dieses 40-Tage-Zyklus eine grundlegende Wahrheit vermitteln: Es kann keine Freiheit ohne die Bereitschaft geben, sich unseren niederen menschlichen Instinkten zu stellen und sich mit dem Schlechten – egal, ob es von innen oder außen kommt – auseinanderzusetzen. Aber wenn man mit dem Schwert und dem Schild der Tora kämpft, sind Freiheit und Erlösung garantiert.

Aber wie können wir das schaffen? Die Antwort muss lauten: Indem wir unser religiöses und barmherziges Engagement verstärken, vor allem Gebet und Zedaka – schließlich sind wenige Minuten Gebet mit persönlichem Einsatz wichtiger als sechs Stunden Lippenbekenntnisse.

G’tt versteht jede Sprache. G’tt weiß, was in Ihrem Herzen vor sich geht. Lassen Sie die Worte in sich eindringen, fühlen Sie sie! Und vergessen Sie nicht den zwischenmenschlichen Aspekt! Geben Sie mehr Zedaka und Wohltätigkeit. Auch das findet G’tt sehr wichtig.

Der Autor ist Rabbiner und lebt in Israel.

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