Talmudisches

Das Leben im Schloss

Foto: Getty Images/iStockphoto

Vor lauter Liebeskummer für die Rückkehr des Partners beten? Ist dies eine gute Tat, oder sollte man solche Gebete lieber unterlassen?

Im Traktat Moed Katan (18b) erzählt der Talmud eine bemerkenswerte Geschichte, die uns neue Erkenntnisse über die Kraft des Gebetes und die Kraft der menschlichen freien Wahl offenbart. Die Geschichte wird mit einer Diskussion darüber eingeleitet, ob es halachisch in Ordnung wäre, sich an Chol HaMoed, also den Zwischenfeiertagen, zu verloben.

Dies gilt nicht als Ideal, weil man nicht die Freude des Feiertags mit einer anderen Freude vermischen soll. Laut Schmuel, einem der talmudischen Weisen, soll dies trotzdem erlaubt sein, da man befürchtet, dass ein anderer Mann die Frau heiraten könnte, die G’tt für einen bestimmt hat. Und wenn man sich zu viel Zeit lässt, könnte es zu spät sein.

Der Talmud pausiert daraufhin die halachischen Diskussionen, um eine grundlegende Sache zu klären: Wenn der künftige Ehepartner von G’tt bestimmt wurde, wie kann ihn dann ein anderer wegnehmen? Wird nicht alles, was G’tt für mich vorherbestimmt hat, mich ohnehin erreichen? Der Talmud antwortet, dass dies zwar tatsächlich der Fall ist – doch das Gebet kann die von G’tt vorherbestimmten Dinge verändern. Das Gebet ist in gewisser Weise stärker als das Schicksal.

Ein anderer talmudischer Gelehrter, Rava, erzählt die folgende Geschichte: Eines Tages hörte er einen Mann von ganzem Herzen für eine bestimmte Frau beten. Rava lief zu dem Mann, um dessen Gebet zu stoppen, und sagte ihm: »Tu das bitte nicht! Falls sie deine Frau ist, werdet ihr zusammenkommen – falls nicht, so wirst du ein Häretiker werden!«

Lebenspartner sind vorherbestimmt

Rava ging davon aus, dass das Schicksal in diesem Fall nicht verändert wird, auch nicht durch das Gebet. Lebenspartner sind vorherbestimmt, und da dieser Mann schon bald realisieren wird, dass seine Gebete nicht beantwortet werden, besteht die Gefahr, dass er den Glauben an G’tt ganz verlieren wird.

Nach einer gewissen Zeit kam Rava wieder an der Synagoge des Mannes vorbei. Er war inzwischen mit der Frau, für die er gebetet hatte, verheiratet. Nun betete er dafür, dass einer von ihnen sterben würde, weil er das miserable Leben mit ihr nicht mehr aushielt. Daraus lernen die Weisen einige tiefgreifende Botschaften: Gebete können die Vorherbestimmung verändern, Gebete für Dinge, für die man eigentlich nicht beten sollte, treffen auch ein – und die Folgen können verheerend sein.

Man muss sich das Leben als ein riesiges Schloss vorstellen. Jeder Moment gleicht einem Raum in diesem Schloss und jede Entscheidung einer Tür in einen neuen Raum. G’tt hat jedem sein eigenes Schloss geschenkt. Einige Räume sind wunderschöne Oasen der Ruhe, andere hingegen sind solche, die man am liebsten wieder verlassen will.

Im Prozess der Entscheidung gibt es viele Türen

Es gibt allerdings einige Situationen, die man mit hoher Wahrscheinlichkeit erleben wird. Wenn zwei Seelen aufeinandertreffen müssen, dann lenkt G’tt die Ereignisse so, dass wir in fast jeder der möglichen Alternativen auf die Person treffen, die wir treffen müssen.
Im Prozess der Entscheidung gibt es viele Türen, die wir nicht einmal bemerken – mit anderen Worten: viele alternative Leben, die wir nie leben werden, weil statt ihrer ein anderes Leben, ein anderer Weg durch das Schloss gewählt wurde.

Hier kommt das Gebet ins Spiel: Das Gebet navigiert uns gleich einem Wunder durch die gewünschten Räume, indem es sowohl unseren als auch den fremden Entscheidungsprozess in Richtung unserer Bitte beeinflusst.
In unserer talmudischen Geschichte hat das Beantworten eines egoistischen Gebets zu einer Situation geführt, die allen Beteiligten viel Leid brachte. Daher sollte man immer versuchen, G’tt zu bitten, die Situationen herbeizuführen, die in Seinen Augen die besten sind, und darauf vertrauen, dass dieser Weg der richtige ist.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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