Talmudisches

Wer die Quelle kennt

Wie so mancher Spruch im Laufe der Zeit dem Talmud zugeschrieben wurde

von Chajm Guski  22.11.2018 08:52 Uhr

Es ist wichtig, die Quelle einer Lehre oder Meinung zu kennen. Foto: Getty Images / istock

Wie so mancher Spruch im Laufe der Zeit dem Talmud zugeschrieben wurde

von Chajm Guski  22.11.2018 08:52 Uhr

Rabbi A hat von Rabbi B die Lehre von Rabbi C erhalten. Was sich für uns heute mitunter seltsam anhört, ist keine literarische Ausschmückung, sondern zeigt, wie wichtig es ist, die Quelle einer Lehre oder Meinung zu kennen.

APHORISMEN Wer sich viel mit dem Talmud beschäftigt, den verwundert es, dass manches Zitat lediglich mit der Quellenangabe »Talmud« in die Welt gesetzt wurde. So ist ein vermeintlicher Klassiker der Spruch »Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte, achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen, achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten, achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter, achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal«.

Das mag nach den Sprüchen der Väter klingen, doch tatsächlich stammt diese Weisheit wohl von dem englischen Schriftsteller Charles Reade (1814–1884). Irgendwann hat jemand damit begonnen, das Zitat dem Talmud zuzuschreiben – ohne Stellenangabe. Und dann fand es die nächste Person toll und schrieb es ab. Irgendwann hat es sich dann verfestigt. So erging es vielen Sammlungen mit Aphorismen aus dem Talmud. Unsere Weisen hätten vielleicht gefragt: Aber woher hast du diese Lehre?

Unsere Weisen hätten gefragt: Aber woher hast du diese Lehre?

Ein anderes Beispiel, wenn auch etwas weniger spektakulär, ist der Satz: »Zwei können dreimal so viel tragen wie einer.« Der Spruch eignet sich bestens dafür, über Gruppendynamik zu schreiben und darüber, wie wichtig Zusammenarbeit ist. Als Quelle wird Sota 34 angegeben.

Schauen wir uns die Stelle an. Auf Blatt 34a wird der Vers »Jeder von euch nehme einen Stein auf die Schulter entsprechend der Anzahl der Stämme Jisraels« (Jehoschua 4,5) diskutiert. Der größere Zusammenhang ist die Größe der Weinrebe, die die Späher aus dem Land mitbrachten. Die Abbildung davon ist legendär. In diesem Zusammenhang wird auch die Überquerung des Jordans erwähnt, wie sie im Buch Jehoschua beschrieben ist.

Kurz darauf berichtet der Talmud, dass Rabbi Jehuda sprach: »Abba Cha­lafta und Rabbi Elieser ben Matja und Chananja ben Chakhinai standen (später) an diesen Steinen, und sie schätzten jeden auf ein Gewicht von 40 Sea.«

Nun sagt der Talmud: »Es wurde gelernt, dass ein Mensch nur ein Drittel von dem, was er tragen kann, auf die Schulter heben kann.« Wie groß die Weintraube war, könne man also daraus errechnen, dass zwei Stangen zum Einsatz gekommen sind. Zwei Stangen mit jeweils zwei Trägern. Die Rechnung lautet also: Ein Mann kann 120 Sea tragen. Vier Männer waren notwendig. Sie haben gemeinsam 480 Sea getragen (wobei es noch andere Rechnungen gibt).

Irgendwann hat jemand damit begonnen, das Zitat dem Talmud zuzuschreiben – ohne Stellenangabe.

So schwer war die Traube, welche die Späher aus dem Land mitbrachten. In Rabbiner Jakob Sterns Sammlung Lichtstrahlen aus dem Talmud (Leipzig 1900) wurde daraus: »Zwei können dreimal so viel tragen wie einer.« Offenbar wurde das mit dem Drittel falsch verstanden und dann weitergegeben. Oder es handelt sich um eine Vermischung mit Informationen, die Rabbiner Stern aus dem Midrasch kannte.

Denn dieser sagt mit Blick auf den Talmud, dass ein Stein 40 Sea gewogen habe (Bamidbar Rabba 16,14). Dann fährt der Midrasch fort: »Wenn jemand ein Gewicht allein hebt, dann schafft er ein Sea. Wird ihm etwas aufgeladen, dann kann er zwei Sea tragen. Wenn er zwei Sea hebt, kann er mit jemand anderem drei Sea tragen.«

ZITAT Aus Rabbiner Sterns Buch scheint das Zitat auch in die USA gelangt zu sein. Denn in einer ähnlichen Sammlung in englischer Sprache erscheint das Zitat ebenfalls. Von dort wird es vermutlich weiterhin übernommen werden.

Es ist also weiterhin angeraten, sich die Quelle einer Information genau anzuschauen. Das haben schon die Rabbinen des Talmuds vorgemacht, und spätere Generationen haben dies beibehalten. Aus gutem Grund.

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