Schelach Lecha

Wenn Träume auf die Realität treffen

Schon Mosches Spione wussten, wie man in Eretz Israel überleben kann

von Yonatan Amrani  28.06.2024 09:23 Uhr

Foto: Getty Images

Schon Mosches Spione wussten, wie man in Eretz Israel überleben kann

von Yonatan Amrani  28.06.2024 09:23 Uhr

Die Einwanderung von Juden nach Eretz Israel in den Jahren 1904 bis 1914 wird in der zionistischen Historiografie als »Zweite Alija« bezeichnet. Ausgelöst wurde sie vor allem durch die Pogrome im zaristischen Russland, unter anderem in Chisinau. Staatsgründer David Ben Gurion gehörte ebenfalls zu denen, die in der Zweiten Alija kamen.

Doch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, Spannungen mit der lokalen Bevölkerung sowie Krankheiten führten dazu, dass ein großer Teil der Einwanderer, darunter auch zahlreiche Idealisten, den zionistischen Traum wieder aufgab und in ein anderes Land weiterzog. Ben Gurion selbst spricht von 90 Prozent. Trotzdem wurde wenige Jahrzehnte später der Staat Israel gegründet.

Einige Tausend Jahre zuvor war eine Gruppe von zwölf Menschen im Land Israel eingetroffen. Sie kamen nicht als Einwanderer, sondern auf Befehl Mosches als Spione. Gerade einmal ein Jahr, nachdem sie Ägypten verlassen hatten, machten sie sich auf den Weg zu einer Reise aus der Wüste, in der sich das Volk Israel gerade befand, nach Judäa und Samaria sowie weiter Richtung Norden. Sie kamen dabei an Orte, die mitten in der Erntezeit waren. Die Weinreben hingen voller Trauben, aus reifen Feigen tropfte der Saft, und auf den Märkten konnte man rote Granatäpfel sehen. »Schnitten sie dort eine Rebe mit einer Weintraube ab und trugen sie an einer Stange zu zweien; auch von den Granaten und den Feigen.«

Reise der Spione im Land Israel

Wenn man nun in unserem Wochenabschnitt über die Reise der Spione im Land Israel liest, ist weder Angst noch Besorgnis zu spüren, selbst wenn sie Hebron besuchen und die »Riesen« sehen, diese außergewöhnlichen Menschen, die den Ort geprägt haben. Die Spione befinden sich in einer Art Euphorie, und das ist verständlich. Nur ein Jahr zuvor waren sie noch Sklaven in Ägypten. Einen solchen Wohlstand und eine solche Schönheit haben sie bis vor Kurzem nicht erlebt. Natürlich war auch Ägypten reich, aber sie waren dort Sklaven. Jetzt hingegen bewegen sie sich als freie Menschen in dem Land, in dem sie sich niederlassen werden.

40 Tage lang tauchten sie ein in die Romantik des Landes, in dem Milch und Honig fließen. 40 Tage sind ein langer Zeitraum, der für eine gewisse Loslösung von der Vergangenheit und für ein neues Bewusstsein ausreicht. So geschah es mit dem Volk Israel, als Mosche auf den Berg Sinai stieg und es ihnen in diesen 40 Tagen gelang, einen neuen Gott in Form eines Goldenen Kalbes zu erschaffen.

Und so ignorierten die Spione die negativen Aspekte des Landes und vergaßen fast die weniger angenehme Aufgabe, die Mosche ihnen gestellt hat: »Und seht, wie das Land ist, und ob das Volk, das darin wohnt, stark ist oder schwach, ob es gering an Zahl oder zahlreich.«

Die harte Realität der Wüste

Dann kehrten sie zurück zu ihrem Volk und in die harte Realität der Wüste. Aber auch an den Grund der Reise, den sie vielleicht lieber vergessen hätten, erinnerten sich die Spione wieder: Informationen über den Feind zu sammeln, der im Land Israel lebt. Auf einmal war daher die Illusion der Romantik zerrissen. Sie verstanden sofort, dass es nicht nur um ein Land mit überwältigenden Landschaften und saftigen Früchten ging, sondern auch um einen Ort, an dem ein Volk lebte, das möglicherweise ein Feind war. »Nur dass das Volk, das im Land wohnt, stark ist, und die Städte sehr fest und groß sind.«

Sie wussten nicht, wie sie diese unerträgliche Spannung zwischen der Schönheit, der sie begegneten, und der Gefahr, die sie erwartete, in den Griff bekommen sollten. Sie waren hoffnungslos. »Wir können nicht gegen das Volk hinaufziehen, denn es ist stärker als wir.«

Den Spionen mag passiert sein, was möglicherweise auch mit der Generation der Zweiten Alija zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschah: Im fernen Russland träumten sie von Eretz Israel, von idealistischer Arbeit, von der Gründung von Dörfern und von den sieben Arten. Und plötzlich standen sie vor Herausforderungen, von denen sie vielleicht gehört hatten, die sie aber nicht wahrhaben wollten: Krankheiten, Anpassungsschwierigkeiten, potenziellen Feinden.

Kluft zwischen Ideal und Realität

Wie die zwölf Spione wussten sie nicht, wie man mit dieser großen Kluft zwischen Ideal und Realität, zwischen Romantik und Herausforderung umgehen sollte. Viele beschlossen deshalb, Israel wieder den Rücken zuzukehren.

Wer aber blieb in Israel? Ben Gurion und seine Freunde. Auch wenn es im Verhältnis zur Gesamtzahl der Einwanderer nur wenige sein sollten, so waren sie doch diejenigen, die wussten, wie man sich mit den Verhältnissen vor Ort arrangiert. Sie wussten, wie man einen Traum mit der Realität sowie Romantik mit harter Arbeit verknüpfen konnte. Es handelte sich um die gleiche Gruppe von Menschen, die schließlich auch den Staat Israel ins Leben rief.

Genau diese grundlegende Eigenschaft wurde von Mosche und G’tt gesucht. Und sie fanden sie tatsächlich, wenn auch nur bei wenigen. Jehoschua und Kalev waren zwar nur zwei der zwölf Spione – aber sie sollten diejenigen sein, die mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattet schienen. Auch waren sie es, die mitten in der Krise dem Volk sagten: »Wir werden hinaufziehen und es in Besitz nehmen, denn wir können es mit ihm aufnehmen.« Deshalb blieben sie, und zwar nur sie, bis zum Einzug des Volkes in das Land Israel.

Kraft zur Resilienz

Die Menschen im heutigen Israel durchleben gerade eine der schwierigsten Zeiten, die sie je erfahren mussten. Aber eines gibt ihnen die Kraft zur Resilienz, und zwar die Fähigkeit, selbst in Zeiten der schwersten Krise zusammenzuhalten. Zudem ist es die Begabung, trotz der verheerenden Zerstörungen davon zu träumen, die verbrannten Kibbuzim wiederaufzubauen und neues Leben einkehren zu lassen. Es ist die Fähigkeit, trotz Trauer und Verlust glücklich zu sein.

Oder so, wie G’tt über Kalev sagt: »Ein anderer Geist war in ihm.« Gemeint ist damit einer, der positiv und optimistisch bleibt, immer das Gute sieht und niemals aufgibt. Das ist der Geist, den wir jetzt in diesen schwierigen Zeiten haben, und deshalb ist es so sicher, dass wir unsere Herausforderungen bewältigen werden – so wie Jehoschua und Kalev in der Wüste, so wie Ben Gurion und seine Freunde zu Beginn des Zionismus und so wie das Volk Israel im Jahr 2024.

Der Autor ist Kantor der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg.

inhalt
Mit G’ttes Erlaubnis sendet Mosche zwölf Männer in das Land Kanaan, um es auszukundschaften. Von jedem Stamm ist einer dabei. Zehn kehren mit einer erschreckenden Schilderung zurück: Man könne das Land niemals erobern, denn es werde von Riesen bewohnt. Lediglich Jehoschua bin Nun und Kalev ben Jefune beschreiben Kanaan positiv und erinnern daran, dass der Ewige den Israeliten helfen werde. Doch das Volk schenkt dem Bericht der zehn Kundschafter mehr Glauben und ängstigt sich. Darüber wird G’tt zornig und will das Volk an Ort und Stelle auslöschen. Doch Mosche kann erwirken, dass G’ttes Strafe milder ausfällt.
4. Buch Mose 13,1 – 15,41

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