Neulich beim Kiddusch

Wenn Messer fliegen

Vor zehn Tagen hat Gott mir ein zweites Leben geschenkt. Wie jedes Jahr musste ich zum Reservedienst einrücken. Drei Wochen lang habe ich in einer Kaserne Tarnanzüge kontrolliert. Anschließend musste ich sie auf die richtige Seite drehen. Diese beiden Arbeitsschritte verlangen nicht viel Gehirnschmalz, man ist mit den Gedanken bei anderen Dingen und arbeitet im besten Falle nur noch mechanisch.

Manche Menschen kommen mit solchen tumben Arbeiten besser zurecht, andere haben bereits am ersten Tag Schwierigkeiten damit. Zwei Soldaten blödelten die ganze Zeit herum. Das war sehr erfrischend und lenkte uns ab. Mal stülpten sie sich in fünf Tarnanzüge hinein, mal ersannen sie sich Tarnanzugsideen für eine Fernsehshow.

Blödel Der Tag, an dem mir Gott ein zweites Leben schenkte, war saukalt. Einer dieser Montage. Die beiden Blödel hatten sich wegen einer Lappalie verkracht und warfen sich Armeestiefel an den Kopf. Wir anderen guckten ihnen kurz zu und versanken wieder in unsere Arbeit. Irgendwann musste ich auf Toilette.

In der Zwischenzeit eskalierte der Streit der beiden. Ja, und dann hat halt einer sein Taschenmesser gezückt, die Klinge herausgeklappt und dem anderen entgegengeworfen. Genau in dem Moment bin ich wieder reingekommen und in die Wurfbahn des Schweizer Offiziersmessers geraten. Das Messer traf mich an der Schläfe.

Tatütata Gott sei Dank war’s nur der Griff. Wär’s die Klinge gewesen, würde an dieser Stelle die Kolumne eines anderen stehen. Ich sackte zusammen, und dann – tatütata – war ich im Krankenhaus. Jetzt wachsen an meiner rechten Schläfe wahrscheinlich keine Haare mehr. Das ist schade, denn mein Bart stand mir bis jetzt sehr gut. Die Ärztin meinte, ich hätte Riesenschwein gehabt, mein Kommandant war gleicher Meinung. Der Messerwerfer, ein zweifacher Familienvater, wurde kreidebleich als ich mit einem großen Verband wieder zurückkam. Blöder Kerl. Er hat mir hoch und heilig geschworen, dass er nie wieder ein Messer werfen wird. Dabei küsste er ein Jesuskreuz, das um seinem Hals baumelte.

Am Schabbat werde ich in die Synagoge gehen und Gomel benschen. Das ist ein kleiner Segensspruch, den man während der Tora-Vorlesung zitieren muss, wenn man aus einer lebensbedrohlichen Situation errettet wurde. Die Anwesenden werden mir dann zurufen: »Der dir alles Gute erwiesen hat, Er wird dir (in Zukunft) alles Gute erweisen, Selah«. Und dann kommen alle und fragen mich, was denn passiert sei.

Uff. Ich bin jetzt schon nervös. Aber ich denke, manchmal muss man seinen Zynismus, die Satire und jegliche Abgebrühtheit abschütteln können und ganz einfach Danke sagen. Nämlich an den Kerl da oben, der mich wahrscheinlich und hoffentlich liebt.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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