Neschama

Wenn die Seele in die Welt kommt

Der Eintritt der Seele in die Welt der Lebenden ist wie eine Vertreibung aus dem Paradies: Säugling kurz nach der Geburt Foto: Thinkstock

In den Sprüchen der Väter lesen wir am Ende des vierten Kapitels: »Wider deinen Willen wurdest du gebildet, wider Willen geboren, wider Willen stirbst du, und wider Willen wirst du einst Rechenschaft und Rechnung ablegen vor dem König aller Könige, dem Heiligen, gelobt sei Er.«

Es gibt wohl kaum ein größeres Ereignis im Leben einer Frau als die Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes. Die Frau schenkt einem neuen Geschöpf das Leben und leistet in Erfüllung der Mizwa der Fortpflanzung (Prija uRewija) einen wertvollen Beitrag zum Fortbestand des jüdischen Volkes. Laut der Tora ist die Mutter nach der Geburt eines Jungen 40 Tage und nach der eines Mädchens doppelt so lange, 80 Tage, rituell unrein. Es erscheint uns befremdlich, dass die Mutter für ihr Engagement den hohen Preis einer so langen Unreinheit zahlen muss, an deren Ende sie dann auch noch teure Opfergaben darzubringen hat.

Partner Der Talmud (Nida 31a) zählt drei Partner auf, die an der Erschaffung des Menschen beteiligt sind: G’tt, Vater und Mutter. Das menschliche Leben auf dieser Welt ist nur ein Teil der Reise der Neschama (Seele). Sie durchwandert vier Welten: die Phase vor dem Eintritt in den Mutterleib, die neunmonatige Schwangerschaft, die Zeit im menschlichen Körper zwischen Geburt und Tod sowie die Phase nach dem Tod.

In der ersten Phase ist die Seele unbefleckt und von himmlischer Reinheit. Sie ist frei von jeglicher Leidenschaft, von unreinen Gedanken und vom Trieb des Bösen (Jezer hara).

In der zweiten Phase verbringt die Seele neun Monate im Mutterleib. In einem Übergangsstadium zwischen dem körperlosen Zustand und der materiellen Welt der Lebenden existiert der Embryo beziehungsweise Fötus in einer geschlossenen und geschützten Welt. Der Talmud (Nida 30b) beschreibt diese Periode wie folgt: »Es gibt keine Tage, in denen der Mensch mehr Wonne erlebt als in den Tagen im Mutterleib, denn es heißt: ›Oh, wäre ich wie in den Monaten der Vorzeit, wie in den Tagen, als G’tt mich behütete‹« (Hiob 29,2). Der Talmud schreibt weiter: »Man lehrt (das Ungeborene) die ganze Tora. Sobald das Kind aber das Licht der Welt erblickt, kommt ein Engel und gibt ihm einen Schlag auf den Mund, sodass es die ganze Tora wieder vergisst.«

Die dritte Phase, der Eintritt der Seele in die Welt der Lebenden, bedeutet das Ende der molligen Wonneperiode. In klaren Worten ausgedrückt, kann man von der Vertreibung der Seele aus dem Paradies sprechen. Der lebende Mensch hat in dieser rauen Welt eine harte Bewährungsprobe zu bestehen. Er muss sich mit der physischen Realität auseinandersetzen, sich ums tägliche Überleben sorgen und ist gezwungen, alle Energie aufzuwenden, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Triebe Wer als Jude geboren wird oder zum Judentum übergetreten ist, hat außerdem einen Kampf an einer weiteren Front zu führen: Er muss seine Triebe beherrschen. Die Seele wird von G’tt auf diese Welt geschickt, da sie einen von Ihm erteilten Auftrag zu erfüllen hat. Er beinhaltet den Dienst für G’tt durch die Erfüllung der Mizwot. Die vom Menschen in dieser Welt erbrachten Leistungen werden im Himmelsreich registriert. G’tt ermöglicht uns die geistige und ethische Vervollkommnung ausschließlich im Diesseits. Was bei der diesseitigen Lebensaufgabe versäumt worden ist, kann im Jenseits nicht mehr nachgeholt werden, denn hier ist die Welt der Taten, dort die Welt der Belohnung.

Die Tora schreibt: »Und du sollst das Gebot, die Gesetze und die Rechtssatzungen hüten, die Ich dir heute befehle, sie zu erfüllen« (5. Buch Mose 7,11). Der Talmud bringt es auf den Punkt, indem er sich auf das scheinbar überflüssige Wort »heute« konzentriert und den Vers folgendermaßen interpretiert: »Rabbi Jehoschua ben Levi sagte: Heute sollen sie (die Gebote) erfüllt werden und nicht erst morgen. Heute sollen sie erfüllt werden, um morgen den Lohn dafür zu erhalten« (Eruwin 22a).

Weil der Eintritt in die zukünftige Welt jederzeit und plötzlich erfolgen kann, müssen wir stets darauf vorbereitet sein und es vermeiden, Aufgaben und Mizwot auf später zu verschieben. Denn vielleicht werden wir diese spätere Zeit nicht mehr erleben, und der aufgeschobene Leistungsvollzug kann nicht mehr nachgeholt werden.

Bilanz Beim Sterben, der vierten und letzten Phase, kehrt der Mensch wieder in die Welt der Seelen zurück. Die Seele geht in eine unendliche, zeit- und raumlose Welt über. Dort wird Bilanz gezogen aufgrund der Buchführung über unsere Leistungen und unsere guten Taten einerseits und unsere Verfehlungen anderseits, für die wir vor dem himmlischen Gericht Rechenschaft ablegen müssen.

Die Seele des Menschen wird nach dem Tod wahrscheinlich kaum noch voll Reinheit und Unbeflecktheit sein wie in der Anfangsphase vor der Zeugung. Durch die Berührung mit der unheiligen Lebenswirklichkeit ist die Seele in ihrer anfänglich himmlischen Reinheit getrübt worden. Solange wir uns in dieser Welt aufhalten, ermöglicht uns G’tt jedoch, unsere Seele von Verfehlungen, die unser Gewissen quälen, mittels Reuebekenntnis und Buße (Teschuwa) zu reinigen. So kann die Neschama doch noch einigermaßen geläutert ins Jenseits eintreten.

Kreislauf Die Seele wandert durch die Welten wie in einem Kreislauf. Bevor sie in eine neue Welt eintritt, muss sie die alte verlassen. Jedes Passieren eines Übergangs bewirkt für die Umgebung eine Unreinheit. Damit die Seele in den Mutterleib eintreten kann, muss der Embryo durch den Sexualverkehr gezeugt werden. Der Geschlechtsakt verursacht eine halachische Unreinheit beim Vater und der Mutter. Der Übergang in die Welt der Lebenden ist die Geburt, die ihrerseits dazu führt, dass die Mutter unrein wird. Ein weiterer Auslöser von Unreinheit ist schließlich der Tod, bei dem der Verstorbene in die Welt der Seelen zurückkehrt.

Die Unreinheit betrifft immer die Umgebung und nicht das Objekt der wandernden Seele. Der Embryo, das neugeborene Kind und die Seele des Toten sind nicht unrein. Der Leichnam des verstorbenen Menschen jedoch ist unrein, da die Seele aus diesem Körper entwichen ist. Er ist die stärkste Quelle von Unreinheit. Betroffen von der Unreinheit sind die Eltern bei der Zeugung, die Mutter bei der Geburt und die Hinterbliebenen des Verstorbenen sowie die Mitglieder der Chewra Kadischa, die bei der rituellen Reinigung mit dem Leichnam in Kontakt gekommen sind. Alle Betroffenen müssen sich einem Reinigungsprozess unterziehen, nachdem sie die Seele beim Übertritt in eine neue Welt begleitet haben.

Nun verstehen wir, weshalb die Mutter nach der Geburt eines Kindes eine Phase der geistigen Unreinheit durchleben muss. Sie hat einer reinen Seele den Eintritt in die physische Welt ermöglicht, ist aber durch ebendiese Aktion vorübergehend selbst unrein geworden und benötigt einen Reinigungsprozess.

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  17.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025