Halacha

Wem das Essen gehört

Wer darf über das Essen verfügen – noch der Gastgeber oder schon der Gast? Viele halachische Autoritäten beschäftigen sich mit dieser Frage. Foto: Getty Images

Halacha

Wem das Essen gehört

Darf man Speisen vom Hotelfrühstück oder dem Gemeindekiddusch mitnehmen?

von Rabbiner Avraham Radbil  11.07.2019 13:22 Uhr

Es gibt eine sehr interessante halachische Diskussion, ob ein Gast über das Essen, das ihm serviert wird, auch tatsächlich verfügt. Setzt man einem Gast Essen mit der Intention vor, dass er es ausschließlich an Ort und Stelle verspeisen soll, oder kann er damit anstellen, was er will? Könnte er es also mit nach Hause nehmen oder es an andere verteilen?

Die Diskussion hat ganz praktische Auswirkungen, denn sie widmet sich letztendlich auch der Frage, ob man Speisen vom Hotelfrühstück, dem All-you-can-eat-Buffet oder dem Gemeindekiddusch mitnehmen darf oder nicht.

familie Es gibt eine Passage im Schulchan Aruch (Orach Chaim 170:19), die besagt, dass der Gast, dem der Gastgeber ein Essen serviert hat, die Speise nicht an die Familienmitglieder des Gastgebers weiterreichen darf.

Diese Stelle basiert auf einer dramatischen Geschichte im Talmud (Chulin 94a). Dort reicht ein Gast die magere Portion, die ihm serviert wurde, an den Sohn des Gastgebers weiter. Als der Gastgeber bemerkt, dass sein Sohn das Essen bekommen hat und der Gast nichts davon hatte, schlägt er verärgert seinen Sohn, woraufhin dieser stirbt. Die Frau des Gastgebers ist davon derart entsetzt, dass sie Selbstmord begeht. Die Geschichte endet damit, dass auch der Gastgeber sich umbringt.

Aus dieser Talmudpassage könnte man lernen, dass dem Gast das Essen nicht gehört, denn er darf es nicht den Familienmitgliedern des Gastgebers weitergeben.

Der Talmud berichtet von einem Gastgeber, der sich umbrachte.

Die meisten halachischen Autoritäten meinen jedoch, dass die Speisen doch dem Gast gehören und er damit machen darf, was er will, also sie essen, mitnehmen oder an andere verteilen kann.

So ist es beispielsweise einem Bräutigam erlaubt, das ihm servierte Essen zu nehmen und damit seine Braut zu heiligen, sich also mit ihr zu verloben. Daran sehen wir, dass das Essen gänzlich dem Gast gehört (Rema, Eben HaEser 28:17, Gra Eben HaEser 28:50, Aruch Haschulchan Eben HaEser 28:5).

Dies ist kein Widerspruch zu der Stelle im Schulchan Aruch, wo wir lesen, dass der Gast das Essen nicht den Familienmitgliedern des Gastgebers geben darf. Diese Stelle wird nicht als eine ultimative Halacha betrachtet, sondern als Hinweis auf gute Manieren und Verhaltensregeln des Gastes. Denn es kann sein, dass der Gast aus einem bestimmten Grund diese Portion erhalten hat (Biur Hagra, Eben HaEser 28:50).

Außerdem ist dem Gast nicht immer bewusst, welche Allergien oder Diätbesonderheiten die Familienmitglieder des Gastgebers haben. Aus diesen Gründen ist es durchaus sinnvoll, dass der Gast vor allem an die Kinder des Gastgebers keine Speisen verteilt, ohne davor um Erlaubnis dafür zu fragen.

Als weiterer Grund wird für diese Empfehlung angegeben, dass der Gastgeber möglicherweise nicht noch mehr von dieser Speise hat und der Gast am Ende hungrig bleiben könnte (Magen Awraham 170:22).

Manche halachischen Autoritäten sagen, die Antwort auf unsere ursprüngliche Frage hänge davon ab, wie das Essen serviert wird oder wo es steht.

buffet So bleibt das Essen bei einem Buffet, oder solange es sich noch auf der Servierplatte befindet, im Besitz des Gastgebers, wohingegen das Essen, das sich bereits auf dem Teller des Gastes befindet (obwohl es von der Servierplatte genommen wurde), allein dem Gast gehört (Beer Hetew, Eben HaEser 28:32).

Dies beruht auf der Annahme, dass der Gastgeber darüber erfreut ist, den Gast mit so viel Essen zu versorgen, wie er braucht, um seinen Hunger während der Mahlzeit zu stillen. Das Essen, das sich auf der Servierplatte befindet oder übrig geblieben ist, gehört weiterhin dem Gastgeber, sodass er es für eine spätere Mahlzeit verwenden kann.

Die Halacha folgt dieser Meinung. Somit darf ein Gast ohne spezielle Erlaubnis außer den Resten, die sich auf seinem Teller befinden, kein Essen vom Gemeindekiddusch oder vom All-you-can-eat-Buffet mitnehmen.

Ähnlich darf ein Feldarbeiter zwar während seiner Arbeit von den Früchten des Feldes essen, sie ohne ausdrückliche Genehmigung jedoch nicht mit nach Hause nehmen.

catering Raw Shmuel Wosner schrieb, dass jemand, der Essen von einer Hochzeit oder Barmizwa mit nach Hause nimmt, ein Dieb ist. Denn häufig beabsichtigen die Gastgeber, übriggebliebene Speisen mit nach Hause zu nehmen und später zu essen. Außerdem erstattet der Caterer manchmal das Geld für Getränke oder Speisen, die nicht verzehrt wurden.

Ist jedoch bekannt, dass das übriggebliebene Essen weggeworfen wird, ist es erlaubt, dieses mitzunehmen (Schewet Halevi 4:225). Auch darf man das Essen dann einpacken, wenn man davon ausgehen kann, dass die Gastgeber nichts dagegen haben. Eine ausdrückliche Erlaubnis ist jedoch immer von Vorteil.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Osnabrück und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Awraham war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der gegen das Böse aufstand

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  31.10.2025

Talmudisches

Audienz beim König aller Könige

Was unsere Weisen über das Gebet und seine Bedeutung lehren

von Rabbiner Avraham Radbil  31.10.2025

Geschichte

Wer war Kyros der Große?

Manche behaupten, Donald Trump sei wie der persische Herrscher, der den Juden die Rückkehr nach Jerusalem erlaubte. Was hinter dem Vergleich steckt

von Rabbiner Raphael Evers  30.10.2025

Interview

»Süßes gibt’s auch in der Synagoge«

Jugendrabbiner Samuel Kantorovych über Halloween, dunkle Mächte und Hexen im Talmud

von Mascha Malburg  30.10.2025

Vatikan

Papst bedauert Krise im Dialog mit Juden - verurteilt Antisemitismus

Seit Jahren ist der Dialog des Vatikans mit dem Judentum belastet. Nun hat Leo XIV. versucht, die Dinge klarzustellen - mit einem Bekenntnis zum Dialog und gegen den Antisemitismus

von Ludwig Ring-Eifel  29.10.2025

Schwielowsee

Shlomo Afanasev ist erster orthodoxer Militärrabbiner für Berlin und Brandenburg

Militärrabbiner gibt es bereits in Deutschland. Nun steigt der erste orthodoxe Rabbiner bei der Bundeswehr in Brandenburg ein

 29.10.2025

Rom

Eklat durch NS-Vergleich bei interreligiösem Kongress

Der Dialog zwischen katholischer Kirche und Judentum ist heikel. Wie schwierig das Gespräch sein kann, wurde jetzt bei einem Kongress in Rom schlagartig deutlich. Jüdische Vertreter sprachen von einem Tiefpunkt

von Ludwig Ring-Eifel  27.10.2025

Talmudisches

Das Schicksal der Berurja

Die rätselhafte Geschichte einer Frau zwischen Märtyrertum und Missverständnis

von Yizhak Ahren  24.10.2025