Talmudisches

Von guten Menschen, denen es schlecht geht

Niemand ist vollkommen. Foto: Getty Images/iStockphoto

Talmudisches

Von guten Menschen, denen es schlecht geht

Die Taten der Vorfahren sind die guten und schlechten Taten der früheren Reinkarnationen

von Vyacheslav Dobrovych  07.08.2020 07:56 Uhr

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Bottalk ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Bottalk angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Der Talmud berichtet im Traktat Berachot (7a) von einem bemerkenswerten Dialog. Mosche fragt G’tt nach der Antwort auf die Frage aller Fragen: »Wieso gibt es gute Menschen, denen es schlecht geht, und schlechte Menschen, denen es gut geht?« Mit anderen Worten: Wieso scheint es keinen klaren Zusammenhang zwischen dem moralischen Handeln und dem irdischen Erfolg zu geben?

Komplexität Die Antwort des Talmuds ist komplex. Es gibt zwei Optionen: Laut Rabbi Meir hat G’tt diese Frage nicht beantwortet, laut Rabbi Jochanan schon. Für den Fall, dass man davon ausgeht, dass die Frage beantwortet wurde, so werden zwei mögliche Antworten des Schöpfers zitiert: »Ein Gerechter, dem es gut geht, ist ein Gerechter, der von einem Gerechten abstammt. Ein Gerechter, dem es schlecht geht, ist ein Gerechter, der von einem Bösewicht abstammt. Ein Bösewicht, dem es gut geht, ist ein Bösewicht, der von einem Gerechten abstammt. Ein Bösewicht, dem es schlecht geht, ist ein Bösewicht, der von einem Bösewicht abstammt.«

Auch wenn das Thema Wiedergeburt im Judentum vielen neu erscheinen mag, ist es fester Bestandteil der jüdischen Mystik.

Daraufhin hinterfragt der talmudische Text sich selbst und sagt, dass dies nicht möglich sei, da ein gerechter G’tt niemanden für die Vergehen seiner Vorfahren bestrafen würde. Als einzig mögliche Rechtfertigung dieser Option sieht der Talmud, dass es sich hier um Menschen handelt, die an den schlechten beziehungsweise guten Taten ihrer Vorfahren festhalten.

Dementsprechend wird, wie bereits erwähnt, eine alternative Antwort genannt: »Ein Gerechter, dem es gut geht, ist ein vollkommener Gerechter. Ein Gerechter, dem es schlecht geht, ist kein vollkommener Gerechter. Ein Bösewicht, dem es gut geht, ist kein vollkommener Bösewicht. Ein Bösewicht, dem es schlecht geht, ist ein vollkommener Bösewicht.«

Antworten Ausgehend vom einfachen Verständnis des talmudischen Textes gibt es also zwei denkbare Antworten auf die Frage nach der Gerechtigkeit G’ttes: Der gerechte Leidende ist entweder nicht vollkommen gerecht, oder er hält an den schlechten Taten der Vorfahren fest.

Die Mystiker interpretieren diese Talmudstellen anders. Sie gehen davon aus, dass jeder Mensch für die guten und schlechten Taten belohnt und bestraft wird. Den Lohn und die Strafe bekommt der Mensch entweder im Diesseits oder im Jenseits. Dabei wird der »unvollkommene« Gerechte durch das Leiden im Diesseits vom Leid im Jenseits befreit und der »unvollkommene« Bösewicht für seine wenigen guten Taten mit Erfolg im Diesseits belohnt und somit aus der ewigen, jenseitigen Welt getilgt.
Dies ist unter anderem auch die Meinung des berühmten Talmudkommentators Rabbi Samuel Edels (1555−1631).

Es ist also nicht mehr der vollkommene Gerechte, dem das Leid erspart bleibt, sondern der Gerechte, der gelernt hat.

Laut den Mystikern sind die Taten der Vorfahren die guten und schlechten Taten der früheren Reinkarnationen. Wenn also ein Mensch an den in seinen früheren Leben (metaphorisch »Vorfahren« genannt) begangenen Sünden festhält, so kann es sein, dass auch »Rechnungen« aus früheren Erdenleben beglichen werden müssen.

Mystik Auch wenn das Thema Wiedergeburt im Judentum vielen neu erscheinen mag, ist es fester Bestandteil der jüdischen Mystik. Der Gaon von Wilna (1720−1792) interpretiert das gesamte biblische Buch Jona als Metapher für eine Geschichte mehrerer Leben.

Ich hörte von einer weiteren Interpretationsmöglichkeit: Das im Talmud benutzte Wort für »Vollkommenheit« ist »Gamur«. Dieses Wort steht im Hebräischen zwar für Vollkommenheit, im Aramäischen aber für das Lernen. Der Talmud springt oft vom Hebräischen ins Aramäische und umgekehrt.

Es ist also nicht mehr der vollkommene Gerechte, dem das Leid erspart bleibt, sondern der Gerechte, der gelernt hat. Der Gerechte, dem es gut geht, hat ein fundamentales Prinzip gelernt und verinnerlicht: Alles ist dem liebenden Schöpfer unterworfen. Leid ist nur eine Einbildung unserer begrenzten Perspektive.

Es ist mir nicht klar, wie diese Interpretation auf den Fall des Bösewichts angewendet werden kann, dennoch steht sie exemplarisch für den Optimismus des G’ttesbewusstseins.

Talmudisches

Positiv auf andere schauen

Was unsere Weisen über den Schutz vor bösem Gerede und die Kraft positiver Gedanken lehren

von Diana Kaplan  21.08.2025

Naturphänomene

Entzauberung des Gewitters

Blitz und Donnergrollen wurden lange als Zorn der Götter gedeutet. Doch die Tora beendete diesen Mythos

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  21.08.2025

Fulda

Vor 80 Jahren - Schuldbekenntnis der Bischöfe nach dem Krieg

Sie stand im Zenit ihres Ansehens. Nach Kriegsende galt die katholische Kirche in Deutschland als moralische Macht. Vor 80 Jahren formulierten die Bischöfe ein Schuldbekenntnis, das Raum für Interpretationen ließ

von Christoph Arens  18.08.2025

Ekew

Nach dem Essen

Wie uns das Tischgebet lehrt, bewusster und hoffnungsvoller durchs Leben zu gehen

von Avi Frenkel  15.08.2025

Talmudisches

Granatapfel

Was unsere Weisen über das Sinnbild der Fülle lehren

von Chajm Guski  15.08.2025

Geschichte

Quellen des Humanismus

Wie das Gʼttesbild der jüdischen Mystik die Renaissance beeinflusste

von Vyacheslav Dobrovych  14.08.2025

Wa'etchanan

Mit ganzem Herzen

Was wir von Mosche über das Gebet erfahren können

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  08.08.2025

Talmudisches

Schwimmen lernen

Was unsere Weisen als elterliche Pflicht verstanden

von Vyacheslav Dobrovych  08.08.2025

Grundsatz

»Wähle das Leben!«

Die jüdischen Schriften und Gebote betonen das Hier und Jetzt. Woher kommt dieses Prinzip?

von Daniel Neumann  07.08.2025