Mizwa

Von ganzem Herzen und ganzer Seele

»Gott hat in seinem Tresor nur einen Schatz: die Himmelsfurcht«, sagt der Talmud. Foto: Flash 90

Im Wochenabschnitt Ekew setzt Mosche seine Abschiedsrede an die Israeliten fort. Er sagt: »Nun, Israel, was verlangt der Herr, dein Gott, noch von dir, als dass du den Schöpfer, deinen Gott, fürchtest, dass du in allen seinen Wegen wandelst und ihn liebst und dem Herrn, deinem Gott, dienst von ganzem Herzen und von ganzer Seele?« (5. Buch Mose 10,12).

Dieser Vers beschäftigt viele rabbinische Kommentatoren. Dabei geht es ihnen um die Frage, die Mosche stellt: »Israel, was verlangt Gott von dir?« Sie scheint auf den ersten Moment kurz und knapp zu beantworten zu sein.

Doch die nachfolgende lange Liste der Ausführungsbestimmungen zeigt uns, dass es sich bei dieser Frage um ein weites Feld handelt. Was Gott von dir will, ist ein Lebenswerk! Es geht darum, Gott in allen Lebenslagen zu fürchten und zu lieben, seinen Wegen zu folgen, ihm von ganzem Herzen und mit ganzer Seele zu dienen, seinen Geboten und Gesetzen gehorsam zu sein. Bei der Gottesfurcht handelt es sich also gewiss um keine Kleinigkeit.

Bitte Ähnliches hören wir im Buch der Psalmen. Auch König David geht es offenbar nur um etwas Minimales, wenn er sich an Gott mit den Worten wendet: »Eines bitte ich vom Herrn, das hätte ich gern.« Doch dann entfaltet er diese eine Bitte: »zu wohnen im Hause des Herrn alle meine Tage, zu schauen die Freundlichkeit des Herrn und nachzusinnen in Seinem Tempel. Denn Er birgt mich in seiner Hütte am Tage des Unheils« (27, 4–5).

Der Midrasch Jalkut Schimoni bemerkt dazu, dass Gott David vorhält: »Zunächst äußerst du nur einen Wunsch, aber dann folgen lange Ausführungen dieses einzigen Wunsches.«

David entgegnet daraufhin Gott: »Von Dir habe ich gelernt, dass der Knecht seinem Herrn gleichen soll!« David führt also seine Art und Idee des Bittens – von wenigem zu vielem – auf Gottes Vorbild zurück. So wie es zu Gottes »einfachem« Ansinnen – nur eines vom Menschen zu fordern – vielfältige Ausführungsbestimmungen gibt, so differenziert David auch seine »einzige« Bitte in viele. Wer sein Leben im Tempel, in nächster Nähe zu Gott, verbringt, dem kann es gar nicht anders ergehen, als dass er immer wieder Anstöße zum Weiterfragen erhält. Hier liegt der Vergleich mit einem Baum nahe, aus dessen Stamm viele Zweige hervorgehen.

Und genauso verhält es sich in unserem Abschnitt mit der Aussage »Gott fordert nur von dir, ihn zu fürchten«. Wer diesem einen Gebot seine volle Aufmerksamkeit schenkt, der wird allen daraus resultierenden Mizwot folgen.

Rhetorik
Warum aber kleidet die Tora das gewichtige Thema der Gottesfurcht in eine so einfache und schlichte rhetorische Frage: »Nun, Israel, was verlangt der Herr, dein Gott, noch von dir, als dass du den Herrn, deinen Gott, fürchtest?«

Dazu antwortet im Talmud Rabbi Chanina im Namen von Rabbi Schimon bar Jochai: »Gott hat in seinem Tresor nur einen Schatz: die Himmelsfurcht (Berachot 33, Megilla 25), wie geschrieben steht: ›Gottesfurcht ist ein Schatz‹« (Jeschajahu 33,6).

Weiter heißt es im Talmud: »Für Mosche ist die Himmelsfurcht eine kleine Sache, so wie Rabbi Chanina meint: Er hat sie schon erreicht. Aber für uns Menschen ist diese Furcht eine große Sache, nicht umsonst wird sie in Gottes Tresor aufbewahrt.«

Israels ehemaliger Oberrabbiner Israel Meir Lau spürte der Herkunft des Begriffs der Himmelsfurcht nach. Zunächst fragte er: Warum reden wir nicht von Gottesfurcht, sondern von Himmelsfurcht? Im Kontext der Sprüche der Väter erklärt er: Es soll immer Himmelsfurcht in euch sein (1,3). Der Begriff »Furcht des Himmels« ist ein allgemein in Gebrauch stehendes Wort, das wir zur Einweihung des Monats sagen. Und das gehört zusammen: »Zu leben, indem wir Liebe zur Tora und Furcht des Himmels haben.« Maimonides, der Rambam (1135–1204), schreibt: »Wie finden wir den Weg, Ihn zu lieben und zu fürchten? Nur wenn der Mensch die unendliche Schönheit der Schöpfung wahrnimmt, wenn er erkennt, mit welcher Weisheit und welchen Taten Gott Seine Welt erschaffen hat, dann gelangen wir zur Furcht Gottes.«

Verantwortung »Alles liegt in der Hand Gottes, außer der Gottesfurcht« (Megilla 25,1). Dazu führt Raschi (1040–1105) aus: Die Furcht des Himmels ist von uns Menschen abhängig, dass wir uns innerlich mit Herz und Seele auf sie einstimmen. Obwohl es in Gottes Macht stünde, uns die Gottesfurcht beizulegen, tut Er es nicht. Er stellt es uns frei, sie auszuüben oder sie zu ignorieren. Aber die spirituellen Kräfte dazu hat Er in uns hineingelegt. Es liegt an uns, sie zu wecken und entsprechend zu gebrauchen. Alles Materielle erhalten wir aus Gottes Hand. Aber mein Gerecht- oder Frevlersein ist nicht auf Gottes Zutun zurückzuführen, sondern liegt allein in meiner eigenen Verantwortung.

Raschi bezieht sich hier auf das 5. Buch Mose 30,19: »Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, dass du das Leben erwählst.« Demnach hat der Mensch die Möglichkeit zu wählen. Und der, der das Leben wählt, tut es aufgrund der Himmelsfurcht.

Unsere Weisen geben uns aber auch einen praktischen Tipp im Hinblick auf die Frage: »Was will Gott von dir?« Dazu erklärt der Talmud: Rabbi Meir sagt, ein Mensch solle jeden Tag 100 Brachot, Segenssprüche, sagen (Menachot 43,2). Raschi ergänzt dazu: Das Wort »ma« (was) erinnert an das Wort »mea« (hundert). Das bedeutet, dass Gott anstatt »ma« »mea« will. Und wenn wir diese 100 Brachot ernsthaft und mit Inbrunst sagen, erreichen wir die Himmelsfurcht.

himmelsfurcht Warum betont die Tora gerade die Himmelsfurcht des Menschen? Darauf antwortet Rabbiner Shlomo Wolbe in seinem Buch Alej Schur: Jedes Objekt in der Welt besteht demnach aus Form und Materie. Der Körper ist die Materie, und die Seele ist des Menschen Form. Wie ein Stück Holz seine Bestimmung erst erreicht, wenn es der Tischler zum Beispiel zum Stuhlbein umarbeitet, so soll der Mensch alles daran setzen, sein Leben so zu führen und zu ändern, dass er zur Himmelsfurcht gelangt und damit seine eigentliche und entscheidende Bestimmung erreicht.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Die Gottesfurcht ist die Bestimmung der Welt und des Menschen. »Gott hat seine Welt erschaffen, damit die Menschen ihn ehren und fürchten« (Traktat Schabbat 31,2).

Der Autor ist Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK) und war bis 2011 Landesrabbiner von Sachsen.

inhalt
Der Wochenabschnitt Ekew zählt die Folgen des Gehorsams der Israeliten auf. Wenn sie sich an die Gesetze halten würden, dann blieben die Völker jenseits des Jordan friedlich, und es würde sich materieller Fortschritt einstellen. Die bisherigen Bewohner müssen das Land verlassen, weil sie Götzen gedient haben – nicht, weil das Volk Israel übermäßig rechtschaffen wäre. Am Ende der Parascha verspricht Mosche, im Land Israel würden Milch und Honig fließen, wenn das Volk die Gebote beachtet und an die Kinder weitergibt.
5. Buch Mose 7,12 – 11,25

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  17.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025