Talmudisches

Vom Wesen der Zeit

Keine zwei Sekunden erfahren dieselbe Dynamik: Collage mit Uhr Foto: Getty Images/iStockphoto

Im Buch Tehilim, den Psalmen, lesen wir in einem Lob- und Danklied eine Aussage, die man König David zuschreibt, nämlich, dass ein Mensch G’tt für jeden Tag seines Lebens danken und ihn preisen soll: »Ich will das Wort des Ewigen rühmen« (56,11).

Der Psalmdichter dankt G’tt dafür, dass Er ihn gerettet hat aus der Gefangenschaft und aus seiner Todesangst. An jedem Tag, in jeder Stunde spürt er G’tt an seiner Seite. Weiter lesen wir in Tehilim 68,20, dass König David folgenden aussagekräftigend Satz sagt: »Gepriesen sei der Ewige, Tag für Tag!« Unsere Weisen im Talmud deuten diese Aussage dahingehend, dass ein jeder Tag einzigartig ist und daher von uns auch auf eine besondere Art gesegnet und gerühmt werden soll.

Weltenplan Obwohl ein jeder Tag anscheinend einen ähnlichen Ablauf hat, wissen wir, dass er auch etwas Besonderes, Einzigartiges mit sich bringen kann. Erst am Abend können wir feststellen, dass er selten so verlaufen ist, wie wir es uns am Morgen vorgestellt haben. Und auch, wenn der Tag nicht nach unserem Plan verlaufen ist, verlief er doch nach dem Weltenplan des Schöpfers. Daher nehmen wir uns die Zeit, die Einzigartigkeit eines jeden Tages und seine besonderen Herausforderungen zu entdecken, aus denen jeder von uns Einsichten und Erfahrungen aus G’ttes Schöpfungswerk gewinnen kann.

Rabbi Jizchak Luria (1534–1572), unter den Chassidim auch als der »Ari« (Löwe) bekannt, einer der bedeutendsten jüdischen Mystiker, lehrte, dass die Wechselwirkung zwischen Zeit und Raum völlig einzigartig ist: Keine zwei Sekunden erfahren dieselbe Dynamik. Das Eintauchen in die sich rasch entwickelnde Neuheit eines jeden Atemzugs ist das, was unsere innere Kreativität freisetzt, die auch für jeden Menschen individuell einzigartig ist.

Die Tora berichtet, dass Awraham 175 Jahre gelebt hat. »Alle Taten seiner Lebenstage trug er, bereit, Rechenschaft abzulegen, in seinen geöffneten Händen« (1. Buch Mose 21,7).

Unsere Weisen erklären dazu: Wenn man Awraham angesprochen und gefragt hätte, was er in seinem Leben vollbracht hat, würde seine Antwort buchstäblich 175 Jahre in Anspruch nehmen, um all das zu erläutern. Dies liege daran, dass er jede Sekunde seines Lebens aktiv gelebt habe, ohne jegliche Zeitverschwendung. Wenn wir das Leben tatsächlich leben, werden auch wir die Zeit und ihren wahren Wert viel tiefer einschätzen können.

Diskussionen Von jeher und über die Zeiten hinweg dachten unsere Weisen, insbesondere Rabbiner in der Zeit des Talmuds, durch ihre rechtlichen Überlegungen und Geschichten über den Zeitbegriff nach. Während es unzählige talmudische Diskussionen gibt, die sich mit bestimmten Zeitabläufen wie Sonnenauf- und -untergang oder Dämmerung befassen, gibt es auch Diskussionen über die übersinnlichen Aspekte der Zeit.

Mit »Zeit« meinen unsere talmudischen Weisen keine Messungen der Dauer wie Tage, Stunden oder Minuten. In den talmudischen Argumenten und Geschichten gibt es oft keine Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Zeit wird von den Weisen sehr unterschiedlich verstanden. Innerhalb der Zeitauffassung, die Bewusstsein und Kultur formte, ist die Vergangenheit ständig präsent, und die Gegenwart findet oft auf der Ebene der Vergangenheit statt.

Zeitliche Flexibilität im Babylonischen Talmud ist ein Mittel, um Rechtsunsicherheiten zu untersuchen und zu lösen, sowie ein Werkzeug, um Geschichten zu erzählen, die Ideen effektiv und dramatisch vermitteln.

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024

Halacha

Die Aguna der Titanic

Am 14. April 1912 versanken mit dem berühmten Schiff auch jüdische Passagiere im eisigen Meer. Das Schicksal einer hinterbliebenen Frau bewegte einen Rabbiner zu einem außergewöhnlichen Psak

von Rabbiner Dovid Gernetz  11.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Schemini

Äußerst gespalten

Was die vier unkoscheren Tiere Kamel, Kaninchen, Hase und Schwein mit dem Exil des jüdischen Volkes zu tun haben

von Gabriel Rubinshteyn  05.04.2024

Talmudisches

Die Kraft der Natur

Was unsere Weisen über Heilkräuter lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  05.04.2024