Neuerscheinung

Vom Talmud losgesagt

Mütterlicherseits stammt Julius Schoeps in direkter Linie vom Berliner Seidenfabrikanten, Publizisten und Gemeindevertreter David Friedländer (1750–1834) ab. Nun legt der durch zahlreiche Publikationen bekannte Historiker ein beeindruckendes Buch über seinen Urahnen vor, das an Informationsreichtum kaum zu übertreffen sein wird.

Friedländer war schon im 19. Jahrhundert eine umstrittene Gestalt, und der sichtlich um Objektivität bemühte Autor lässt sowohl Lobredner über den »Vater der jüdischen Reformbewegung« als auch Kritiker zu Wort kommen. Dass der Historiker Heinrich Graetz Friedländer eine »philisterhafte, beschränkte Natur« attestierte, wird sogar an zwei Stellen vermerkt.

Auf Friedländers Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Berlin, der heute noch existiert, aber im Laufe der Jahre stark verwittert und unansehnlich geworden ist, wurde unter anderem vermerkt: »Treuer Schüler und Freund des weltweiten Moses Mendelssohn.« Unbestritten ist, dass Friedländer fast täglich Umgang mit dem Religionsphilosophen Mendelssohn (1729–
1786) hatte – aber war er wirklich ein treuer Schüler?

Standpunkt Schoeps zeichnet Friedländers religiöse Entwicklung sorgfältig nach und stellt fest, dass dieser sich zwischen Mitte der 80er- und Anfang der 90er-Jahre zu einem vehementen Gegner der Rabbiner wandelte. Er vertrat den Standpunkt, es sei den Juden erlaubt, sich vom Talmud loszusagen. Eine solche radikale Position hat Moses Mendelssohn nie gebilligt, und diese hat auch sein Schüler zu Lebzeiten des verehrten Meisters nicht vertreten.

Wie weit Friedländer sich ideologisch zu bewegen bereit war, zeigt ein »Sendschreiben«, das er 1799 anonym in Berlin publizierte. Mendelssohns Freund schlug eine Glaubensvereinigung vor, und zwar auf der Basis eines geläuterten Christentums einerseits und eines aufgeklärten Judentums andererseits.

Zur Überraschung von Friedländer und seiner liberalen Genossen waren protestantische Denker von diesem kühnen Religionsprojekt keineswegs begeistert. Von konservativer jüdischer Seite wurde auf die Würdelosigkeit des Vorganges hingewiesen. Erst in unseren Tagen wird Friedländers Vorschlag von einigen Historikern etwas nachsichtiger betrachtet: Seine Motive seien eher politischer denn theologischer Natur gewesen.

Detailreich beschreibt Schoeps die Debatten und Konflikte um die rechtliche und politische Gleichstellung der Juden in Preußen. Und in diesem Kampf hat Friedländer viel geleistet. Er war zweifellos die treibende Kraft hinter den Reformbemühungen der Jahre 1782 bis 1792. Und auch beim Zustandekommen des Ediktes von 1812, bei dem es um die Annahme eines festen Familiennamens sowie um Fragen des Kultus und des Unterrichts ging, hat er vor und hinter den Kulissen mitgewirkt.

Antisemit Das vorliegende Werk enthält zahlreiche Exkurse. So erfahren wir zum Beispiel, dass Caroline von Humboldt eine Judenhasserin war und lernen die Ursachen für diese Geisteshaltung kennen. Schoeps behandelt außerdem die umstrittene Frage, ob der berühmte Königsberger Philosoph Immanuel Kant ein Judenfeind war oder nicht. Und er untersucht, ob Johann Wolfgang von Goethe ein Antisemit war, mit dem Friedländer, nebenbei bemerkt, Briefe gewechselt und Medaillen getauscht hat.

Bei der Erforschung seiner Familiengeschichte hat Julius Schoeps enorm viel Material gesichtet und leserfreundlich aufbereitet. Seine Studie gewährt Einblicke in eine längst vergangene Epoche des deutschen Judentums, die zu kennen uns helfen kann, manche Probleme der Gegenwart besser zu verstehen.

Julius H. Schoeps: »Deutsch-Jüdische Geschichte durch drei Jahrhunderte. Band 6: David Friedländer. Freund und Schüler Moses Mendelssohns«. Olms, Hildesheim 2012, 471 S., 22,80 €

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  17.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025