Talmudisches

Vom Schutz der Privatsphäre

Der Schutz der Privatsphäre ist im Judentum ein hohes Gut. Die negativen Folgen ihrer Missachtung werden als Chesek Rija bezeichnet, als durch Schauen verursachter Schaden. Foto: Thinkstock

Karl Marx beschreibt das Geld als »Maß der Werte«. Jede Ware und Dienstleistung hat in der kapitalistischen Gesellschaft einen Wert, der im Maß des Geldes abgebildet werden kann. Geld ist Zahlungsmittel, und wir können jede Ware oder Dienstleistung dagegen eintauschen – sofern wir genug davon haben. Gleichzeitig tauschen wir unsere Arbeitskraft gegen Geld, um am Tauschprozess teilnehmen zu können.

Im Internet gibt es Dienstleistungen, die kein Geld kosten. Google kostet uns kein Geld – aber ist nicht umsonst. Um seine Dienste zu nutzen, erzählen wir ihm von uns, unseren Plänen, Wünschen und Aktivitäten. Google sitzt stets auf unserem Schreibtisch und in unserer Tasche und schreibt mit. Der Einblick in unser Leben ist der Wert, den wir eintauschen.

Im Babylonischen Talmud, Traktat Pessachim, steht geschrieben: »Die Rabbanan lehrten: Sieben Dinge gebot Rabbi Akiwa seinem Sohn Rabbi Jehoschua. Eines unter den sieben lautete: Trete nicht plötzlich in dein Haus ein, und um so weniger in das Haus deines Nächsten.«

Respekt Rabbi Akiwas Ratschlag an seinen Sohn wird als Aufforderung interpretiert, die Privatsphäre seiner Mitmenschen zu respektieren. Das Bedürfnis, nicht alles von sich preiszugeben, ist so alt wie das menschliche Bewusstsein. Als Adam und Chawa vom Baum der Erkenntnis aßen, bezahlten sie ihr neues Bewusstsein damit, dass sie hart mit der Realität zusammenprallten: Ihnen gingen die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schürze (1. Buch Mose 3,7).

Der Schutz der Privatsphäre ist im Judentum ein hohes Gut, und die negativen Folgen ihrer Missachtung werden als Chesek Rija, als durch Schauen verursachter Schaden, bezeichnet. In der Mischna, Traktat Bava Batra, heißt es sinngemäß: Du sollst in einem Innenhof nicht zwei gegenüberliegende Türen und nicht zwei gegenüberliegende Fenster öffnen.

Wir sollen kein Fenster öffnen, um zu schauen, was der Nachbar in seinen eigenen vier Wänden treibt, und gleichzeitig sollen wir auch dem anderen keinen unnötig tiefen Einblick in unser Privates geben.

Darüber hinaus wird in der jüdischen Tradition großer Wert auf den Schutz des Hauses vor unerwünschten oder unangemeldeten Eindringlingen gelegt. So gebietet die Tora (5. Buch Mose 24, 10–11): Wenn du einem anderen irgendein Darlehen gibst, sollst du, um das Pfand zu holen, nicht sein Haus betreten. Du sollst draußen stehen bleiben, und der Mann, dem du das Darlehen gibst, soll dir ein Pfand nach draußen bringen.

Briefgeheimnis Auch das Briefgeheimnis wird in der rabbinischen Tradition besonders hervorgehoben. Rabbenu Gershom Me’or Hagola, eine rabbinische Autorität aus dem mittelalterlichen Deutschland, schrieb, das Lesen eines fremden Briefes sei verboten und eine so schwere Verfehlung, dass als Konsequenz der Cherem drohe, die Verbannung aus der jüdischen Gemeinschaft.

Im heutigen Deutschland gilt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das Recht des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen. Ebenso heißt es in der Europäischen Menschenrechtskonvention: Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

Die oben genannten Dienstleistungen die uns Google, Facebook und Co. anbieten, bezahlen wir mit unseren sperrangelweit geöffneten Türen und Fenstern und mit unseren gläsernen Briefen. Wir stimmen freiwillig zu, vielleicht weil die unsichtbaren Algorithmen unauffälliger sind als die neugierigen Nachbarn. Doch lebte Rabbi Akiwa in Zeiten von Big Data, würde er seinem Sohn wohl raten: Lies die Allgemeinen Geschäftsbedingungen und öffne dein digitales Fenster nicht weiter als nötig!

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

Philosophie

Der Moment des Staunens

Am 13. Juli jährt sich der Geburtstag von Jeanne Hersch zum 115. Mal. Lange wurde die Existentialistin ausgerechnet von der akademischen Forschung marginalisiert – und kaum als jüdische Philosophin wahrgenommen

von Richard Blättel  11.07.2025

Balak

Stärke in Zeiten der Entscheidung

Wie eine uralte Prophezeiung Israels Wesen prägt

von Yonatan Amrani  11.07.2025

17. Tamus

Das ist erst der Anfang

Nun beginnt die jährliche Trauerzeit. Sie soll auf Größeres vorbereiten

von Rabbiner Raphael Evers  11.07.2025

Meinung

Die Kirche schafft sich ab

Jetzt soll ausgerechnet der Antizionismus helfen, den gesellschaftlichen Niedergang der Kirche zu stoppen

von Josias Terschüren  10.07.2025

Nachruf

Er bleibt eine Inspiration für uns alle

Der langjährige Zürcher Gemeinderabbiner Marcel Ebel ist verstorben. Eine Würdigung von seinem Nachfolger

von Rabbiner Noam Hertig  10.07.2025

Talmudisches

Eifersucht: Das bittere Wasser

Unsere Weisen und ein altes Ritual

von Chajm Guski  10.07.2025

Nahost

»Öl ins Feuer des anwachsenden Antisemitismus«

Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt wirft der evangelischen Kirche moralisches Versagen vor und kritisiert eine Erklärung des Weltkirchenrats, in der Israel »dämonisiert« werde

 05.07.2025

Chukat

Ein Tier, das Reinheit schafft

Wir können die Mizwa der Roten Kuh nicht verstehen – aber ihre Bedeutung erahnen

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  04.07.2025

Talmudisches

Die weibliche Idee hinter König David

Was Kabbalisten über Eschet Chajil, die tüchtige Frau, lehren

von Vyacheslav Dobrovych  04.07.2025